Lloyd Jones: "Geschichte der Stille"

Eine Spurensuche in Neuseeland


"Leerstände, der ewige Wind, die sagenhaften Leistungen des Ministeriums für öffentliche Baumaßnahmen und Schweigen - das sind die Bedingungen unserer täglichen Existenz." (S. 60)

Eine Katastrophe als fragwürdige Inspiration

Nach einer Katastrophe erscheint plötzlich alles in einem anderen Licht, man kann auf die jüngste Vergangenheit mit Nostalgie zurückblicken, und mit einem Mal drängen vergessen geglaubte und verdrängte Episoden an die Oberfläche.
Besonders für Angehörige der schreibenden Zunft stellen weltweit wahrgenommene Naturkatastrophen eine gewisse Verlockung dar, sich in Buchform damit zu beschäftigen; quasi der Stoff, aus dem die Alpträume sind. So beispielsweise auch für den österreichischen Autor Josef Haslinger, der im Dezember 2004 mit seiner Familie auf der thailändischen Insel Phi Phi urlaubte, als ein Tsunami verheerende Verwüstungen anrichtete ("Phi Phi Island. Ein Bericht", S. Fischer, 2007).

Vergangenheitsbewältigung: Entdeckungsreise und Lokalaugenschein

Der 1955 in Lower Hutt, Neuseeland, geborene Lloyd Jones spürt in Form eines um Biografie- und Geschichtselemente erweiterten journalistischen Reiseberichts in sechs Kapiteln generationenübergreifenden Geschichten nach, lässt seine Gedanken schweifen, sucht nach Spuren seiner Vorfahren und kehrt auch zu den europäischen Wurzeln der Einwandererfamilie zurück.
Anlass oder auch Auslöser sind die Auswirkungen des katastrophalen Erdbebens, das Christchurch, die größte Stadt der Südinsel Neuseelands, am 22. Februar 2011 heimgesucht hat.
Aufgewachsen in einer vielköpfigen Familie, umgeben von verschwiegenen Familiengeschichten und allerlei unaussprechlichen Geheimnissen, ist seine Wahrnehmung für besondere Schwingungen geschärft, seine Seele immer noch ausreichend empfindsam, um inmitten der sichtbaren Zerstörungen nach Ursachen und Wirkungen zu forschen, Details der Identität zu ergründen und die Resultate schriftstellerisch aufgearbeitet zu präsentieren.
Ruinen, Brachflächen, Gedenkstätten, aber auch kreative Zeichen der Hoffnung und des Mutes, weiterzuleben, langsam aber stetig eine neue Normalität zu schaffen: Lloyd Jones vermittelt anhand von zeitgenössischen Tatsachenberichten verschiedener Abschnitte Wissenswertes über Land und Leute, Migrantenschicksale, Lebenswirklichkeiten und Sehnsüchte vor und nach der Katastrophe, er rekonstruiert für immer Verlorenes, wertet Briefwechsel sowie behördliche Aufzeichnungen aus und macht die Anstrengungen des Wiederaufbaus sichtbar, immer entlang der Familiensaga.

Lloyd Jones' ruhig fließender, sanfter Stil ist vergleichbar mit jenem des französischen Literaturnobelpreisträgers Patrick Modiano, denn hier wie dort vermischen sich behutsam Bruchstücke von Erinnerungen und Geschichten mit aktuellen Beobachtungen eines umherstreifenden Erzählers, eines umherschweifenden Blicks. Beschauliche, akribische Schilderungen von Häusern, Kindheitserlebnissen, stimmungsvollen Landschaften etc. sind in subjektiven Momentaufnahmen der Gegenwart eingefangen. Die unspektakuläre Sprache, (man könnte sie vielleicht ebensogut als nüchtern-poetisch bezeichnen), trägt entscheidend zur bewusst wahrnehmbaren Langsamkeit des Lektüreerlebnisses bei. Aus zeitlicher Distanz geschilderte Ereignisse, seien sie noch so traumatisch,  treten niemals aus dem Schatten des Ausdrucks, die Stille des vorsichtigen Beobachters hüllt alles und jeden ein.

Manche Sätze wirken wie höfliche Einladungen an den Leser, Gedanken weiterzuspinnen, und leise klingt die Lektüre im Inneren nach.
"Die Dinge, so schien es, mussten sich erst festigen, dann auflösen, um neues Wachstum zu erlauben. Auf diese Weise bekam altes Wissen eine Möglichkeit, zu neuem Wissen zu werden." (S. 201)
"Natürlich traf das Erdbeben den Ort, den es getroffen hat, in einem unvorhergesehenen Moment, und dem bloßen Auge musste das Muster der Unglücks natürlich zufällig erscheinen, es sei denn, natürlich, man kannte die frühen Stadtpläne, die auf alte unterirdische Wasserwege verwiesen, und natürlich wurde ich in eine Welt des Schweigens hineingeboren, weil es genau das ist, was die mit Schande Überzogenen an ihre Nachkommen weitergeben - ein willentliches Vergessen." (S. 246)

(Franka Reineke; 12/2015)


Lloyd Jones: "Geschichte der Stille. Eine Spurensuche in Neuseeland"
(Originaltitel "A History of Silence. A Memoir")
Übersetzt von Grete Osterwald.
Rowohlt, 2015. 288 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Digitalbuch bei amazon.de bestellen