Robert Beachy: "Das andere Berlin"

Die Erfindung der Homosexualität: Eine deutsche Geschichte 1867-1933


Homosexualität als Menschenrecht. Ein Blick in die (andere) deutsche Geschichte.

"Homosexualität ist eine deutsche Erfindung". Mit dieser These, die eigentlich eine Schlagzeile ist, stellt der us-amerikanische Historiker Robert Beachy seine Studie über Homosexualität in Deutschland vor. Eine These, die ebenso überraschend wie provokant ist. Wenn man sich in Erinnerung ruft, welchen Verfolgungen in der Zeit des Nationalsozialismus und welchen Diskriminierungen in der deutschen Nachkriegszeit Homosexuelle ausgesetzt waren, ist es tatsächlich ein überraschender Befund, dass ausgerechnet Deutschland ein Hort der Emanzipation für Homosexuelle gewesen sein soll. Die Belege jedoch, die Beachy dafür in den Fokus stellt, sind beeindruckend und zeigen, wie sehr das kollektive Gedächtnis die eigene Geschichte selektiv wahrnimmt bzw. wie es von der intellektuellen Elite selektiv aufbereitet wird. Und wie uns damit wichtige Erfahrungen fehlen.

Die historischen Fakten sprechen für sich. Homosexualität gibt und gab es in allen Kulturen, schwule Subkulturen sind vielfach belegt. Sei es im Florenz des 15. Jahrhunderts oder in England, den Niederlanden und in Frankreich im 18. Jahrhundert. Gleichwohl war sie immer offiziell verboten. Zuerst als Sünde, dann zusätzlich als strafrechtlicher Tatbestand. Zumindest bis zur Aufklärung, in deren Gefolge in manchen Staaten die Strafverfolgung aufgehoben wurde. Nicht aber in Preußen. Als § 175 wurde das Homosexuellen-Verbot 1871 auf das gesamte neugeschaffene Deutsche Reich ausgedehnt und erst mehr als hundert Jahre und mehrere Staatsformen später 1994 endgültig abgeschafft.

Verbot, Bestrafung, Diskriminierung - das sind die düsteren Begleitumstände, innerhalb derer alternative Lebensentwürfe bzw. Verhaltensweisen sich zu bewegen gezwungen waren. Homosexualität galt bis weit ins 19. Jahrhundert (und darüber hinaus) als Sünde, als Perversion und/oder als Krankheit, die es zu ahnden und heilen gilt Jedes Umdenken in Sachen Homosexualität - weg von der kriminellen Perversion hin zu einer natürlichen, angeborenen Veranlagung - glich einer Revolution. Zunehmende Säkularisierung und wissenschaftliche Fortschritte begünstigten in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts ein Umdenken. Es waren vornehmlich deutsche Ärzte, Wissenschaftler und Aktivisten, die diesen Prozess vorantrieben und Homosexualität als nicht krankhafte Variante der Sexualität verstanden. Das heißt, Homosexualität im heutigen Sinne ist eine deutsche Erfindung.

Auf mehr als 400 Seiten breitet Beachy eine Fülle von Material aus, das die Vorreiterrolle Deutschlands bzw. Berlins darlegt. Er erzählt von den Pionieren der Sexualwissenschaft, den Debatten um gesellschaftliche Anerkennung im Kaiserreich sowie vom schwulen Eldorado Berlins in der Weimarer Zeit. Wer kennt noch Karl Heinrich Ulrichs, einen Juristen, der Anfang der 1860er-Jahre eine Kampagne zur Aufhebung des preußischen Sodomiegesetzes startete und mit ebendieser Forderung am Deutschen Juristentag einen veritablen Skandal verursachte? Wer ahnt etwas vom regen schwulen Nachtleben im Berlin der Kaiserzeit und der Politik einer bedingten Tolerierung? Der Autor berichtet aber nicht nur vom Kampf für Toleranz und Entkriminalisierung gleichgeschlechtlicher Liebe, sondern auch von männlicher Prostitution und damit einhergehender Erpressungskriminalität, von den Spaltungen in der Bewegung für die Rechte der Homosexuellen, von Verurteilungen und zerstörten Existenzen bis zu den Vorstellungen des Schriftstellers Hans Blüher über einen nationalistischen homoerotischen Männerbund. Breiten Raum widmet er dem Berliner Sexualforscher Magnus Hirschfeld, der 1897 das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee in Berlin als erste Schwulenrechtsorganisation der Welt gründete und nach dem Ersten Weltkrieg das Institut für Sexualwissenschaft. Mit dem Machtantritt Hitlers wurde jedoch rasch alles Erreichte Makulatur. Hirschfeld ging ins Exil, Institutionen wurden zerstört, Bücher verbrannt und Homosexuelle inhaftiert.

Gerade auch angesichts des nationalsozialistischen Terrors und darauffolgender bürgerlicher Intoleranz ist die Arbeit von Robert Beachy, der die andere, vergessene Seite dieser Medaille zeigt, wichtig. Alle Fortschritte, Erfolge und Berlins berühmtes Nachtleben, das schwule Künstler aus aller Welt anzog, können aber auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass für Homosexuelle ein sogenannt normales Leben mit einem Partner nicht Teil davon war. Allein, die Existenz und das Florieren von homosexuellen Lokalen, Bars und Veranstaltungen und von homosexueller Prostitution ist wohl ein Zeichen der Existenz von Homosexualität aber nicht von einer offenen, liberalen Gesellschaft, in der die Ausformung der Sexualität keine Rolle spielt. Mit anderen Worten: Die Nacht in schwulen Bars zu verbringen und Sex mit Strichern war verbreitet, aber nicht ein respektiertes gelebtes schwules Leben mit oder ohne Partner. Deshalb ist die Diskriminierung von Homosexuellen nicht nur im Nationalsozialismus, sondern bis gegen Ende des Jahrtausends so leicht zu verankern gewesen. In dem Augenblick, in dem ein anderes Verhalten den Kern der Gesellschaft berührt, ist es mit der Toleranz schwierig. Ausgrenzung und Diskriminierung bestimmen den Alltag, mit oder ohne Gesetz. Wie sehr die Nationalsozialisten jegliche humanistische und emanzipatorische Kultur nachhaltig behindert, ja sogar ausgelöscht haben, lässt sich an der Nachkriegsgeschichte Deutschlands (und Österreichs) ablesen. Nicht nur, dass der berüchtigte Paragraph 175 weiterhin in Kraft blieb, er erlebte sogar in Form von Verurteilungen in den 1950er-Jahren einen neuen Höhepunkt. Erst 1975 erfolgte eine Liberalisierung und - man kann es kaum glauben - erst nach der Wiedervereinigung seine Aufhebung.

Der französische Schriftsteller Octave Mirabeau bemerkte um die Jahrhundertwende süffisant: "Anstatt die Liebe unter Männern ganz einfach als Laster zu pflegen, sind sie auf pedantische Weise homosexuell ..." Genau das war der Fortschritt: Wissenschaftler und Aktivisten wurden nicht müde, für die Gleichberechtigung der gleichgeschlechtlichen Liebe als einer angeborenen Veranlagung zu kämpfen. Und genau darum geht es. Damals wie heute, Homosexualität ist kein Laster, sondern ein Menschenrecht.

Sehr ausführlich und sehr detailreich eröffnet Robert Beachy uns den liberalen, toleranten Teil unserer Geschichte, der im Horror ihrer monströsen Verbrechen verborgen blieb. Dieses andere Berlin, dieses andere Deutschland, das Beachy wieder aufleben lässt, belebt die ewige Hoffnung, dass eine offene und tolerante Gesellschaft möglich ist. In diesem Sinne füllt das Buch nicht nur einen weißen Fleck in der Geschichtsschreibung, sondern erinnert uns an die positiven Möglichkeiten unserer Geschichte.

(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 08/2015)


Robert Beachy: "Das andere Berlin.
Die Erfindung der Homosexualität: Eine deutsche Geschichte 1867-1933"

(Originaltitel "Gay Berlin: Birthplace of a Modern Identity")
Übersetzt von Hans Freundl, Thomas Pfeiffer.
Siedler, 2015. 464 Seiten.
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Robert Beachy hat deutsche Geschichte studiert und an der Universität Chicago promoviert.

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