Alban Nikolai Herbst: "Traumschiff"
Volle
Lebenskraft voraus, dem Ende entgegen: Wenn die weite Welt schrumpft
"Medizinisch gesehen, sagte er, könnte er sprechen.
Ich glaube nur, er will es nicht. Ich halte es wirklich für
eine Entscheidung. Ihre Ursache werden wir kaum erfahren. Es sei denn,
er nimmt sie zurück. Weiß vielleicht einer von
Ihnen, was er in sein Heft schreibt?
Koordinaten, sagte Patrick. Ich glaube, er notiert dauernd unsere
Koordinaten." (S. 188)
Es ist lediglich vordergründig ein Buch der leisen
Töne, Alban Nikolai Herbsts "Traumschiff", das eventuell mehr
als eine Lesart zulässt. Doch keine der Varianten ist zwingend
oder schließt andere grundsätzlich aus; eine
spannende Leseerfahrung!
Mit Liebe zum Detail und kunstvoll ausgeführte Innerlichkeiten
prägen den Roman; nicht nur, weil sich der Protagonist dazu
entschlossen hat, in Schweigen zu verharren.
Dieser Icherzähler ist allerdings ein recht
unzuverlässiger Berichterstatter: Seine Kräfte
schwinden, und er dringt stetig in höchstpersönliche
Erlebniswelten vor, die sich der Umwelt nicht erschließen.
Die gehaltvolle Atmosphäre, soweit diese Vorgänge und
Zustände auf einem Kreuzfahrtschiff betrifft, bezeugt, dass
der Autor im Rahmen der Entstehungsgeschichte seines Romans anno 2014
höchstpersönlich eine Kreuzfahrt unternommen hat, um
sowohl authentische Eindrücke als auch konkrete Stimmungen
einzufangen und festzuhalten, wenn es beispielsweise um Rituale
anlässlich der Äquatorüberquerung oder die
Abschiede von Anlegestellen geht.
Doch es wäre kein Buch von Alban Nikolai Herbst, handelte es
sich beim "Traumschiff" tatsächlich um ein solches oder einen
mehr oder weniger banalen Reisebericht. Mitnichten!
Vielmehr nähern sich Todgeweihte, die "Reisegesellschaft
der Sterbenden" (S. 178), ihrem jeweiligen Ende; ob sich die
Ereignisse in einem Pflegeheim, an Bord eines Kreuzfahrtschiffs oder
anderswo zutragen, ist letztlich nicht von Belang, so raffiniert wie
unmerklich durchdringen einander die unterschiedlichen Ebenen. Wobei
überhaupt erst ein absichtlich so gewählter
schwankender Icherzähler diese exklusive Konstruktion zum
Leben erwecken kann. Und: "Das Traumschiff ist selber die
Zeit." (S. 23) - was zählt, ist das Leben
im Augenblick.
Das geträumte Schiff oder Eine Aussöhnung
mit sowohl dem Dasein als auch dem Wegsein
Der Roman wartet überdies mit einmal schockierenden, dann
wieder einfühlsamen Betrachtungen über das Altsein,
über körperlichen Verfall sowie den Umgang der Pflegenden
und Angehörigen mit den dadurch auftretenden Problemen auf.
Wenn jemand nicht mehr essen will, sich nicht mehr
selbstständig waschen und anziehen kann, wiederholt
stürzt, geistig verwirrt, orientierungslos und bisweilen
rücksichtslos wirkt und Verwandte und Freunde nur noch selten
oder gar nicht mehr erkennt, gerät sein Umfeld gleichfalls in
einen Ausnahmezustand. Und doch lebt dieser Mensch sein Leben weiter,
womöglich reduziert auf eigene Gedanken, und empfindet seinen
Körper bisweilen voller Scham in wachsendem Ausmaß
als Käfig.
Über den Umgang mit Pflegebedürftigen heißt
es stimmig: "Dieses Wir ist weit schlimmer als das Du. Weil
man dann gar nicht mehr als eigenständige Person wahrgenommen
wird. Sondern man wird unbesonders." (S. 148)
Hinsichtlich des geschilderten Verfallsprozesses erreicht "Traumschiff"
allerdings keineswegs jene herausragende Intensität, die Jaume
Cabrés "Das Schweigen des Sammlers" auszeichnet, dies war
eventuell auch gar nicht die Intention des Autors. Denn zu Alban
Nikolai Herbsts Stärken gehören unter Anderem das
behutsam kühle Beschreiben sowie die nüchterne
Betrachtung der geschilderten Vorgänge (auf leisen Sohlen
nähern sich Angst und Schrecken), seine Protagonisten bleiben
stets auf Distanz zum Leser und bewahren, wohl auch aus anerzogener
Höflichkeit, gewisse persönliche Geheimnisse, sodass
sie niemals wie "offene Bücher" vor dem Leser liegen und er
keinesfalls hautnah an sie herankommt, auch wenn bisweilen groteske
intime Details preisgegeben werden und magische Momente Einsichten
ermöglichen.
Es ist bei Herbst oft ein Wechselspiel von Annäherung und
Entziehen, das für Spannung sorgt und dem Leser Freiraum
für Interpretationen gewährt.
In "Traumschiff" schildert der mit 69 Jahren eigentlich gar nicht so
alte Gregor Lanmeister seinen Verfall in Selbstgesprächen bzw.
Kladden (Schmierheften), deren tatsächliche Existenz jedoch
fraglich erscheint. Er ist einer von angeblich einhundertvierundvierzig
Passagieren
"mit Bewusstsein", die man vor allem daran erkennt, dass sie
auf dem Schiff bleiben und dieses erst nach ihrem Tod verlassen, wird
behauptet.
Dieser Herr Lanmeister ist und bleibt also auf dem Schiff, um zu
sterben. Er hat sich ganz in sein Schweigen zurückgezogen, was
ihn freilich nicht daran hindert, Menschen zu beobachten,
Schlussfolgerungen zu ziehen, Vorurteile zu hegen und zu verwerfen,
hinreißende Naturschauspiele zu betrachten und den
Zwangsbelustigungen des Kreuzfahrtschiffs ablehnend
gegenüberzustehen. Ob es sich allerdings um ein solches
handelt? Immerhin nennt niemand außer ihm selbst sein Zimmer
"Kabine" ...
Weitere Unsicherheiten schleichen sich in die anfangs noch treffsicher
wirkenden Gedankenverläufe ein; beispielsweise, ob es nun "Schlosshund"
oder
"Schoßhund", "Mantas" oder "Mantras"
in den entsprechenden Formulierungen heißen muss, wer wann
was getan hat, wie bestimmte Personen aussehen, wie seine Kabinennummer
ist usw.
Erinnerungen, Träume und die Gegenwart vermischen sich,
Grenzen werden verwischt.
Aber Lanmeister erweist sich mit Fortdauer des Aufenthalts als kein
einfacher Passagier oder auch Patient, denn er verweigert meistens die
Mahlzeiten, geistert nachts allein auf dem Schiff herum, spuckt seine
Tabletten heimlich aus, wehrt sich gegen den Rollstuhl, bis dieser
unvermeidbar ist, und verwüstet gelegentlich seine Unterkunft.
Gregor Lanmeisters bisheriges Leben hatte aus seiner Sicht offenbar
mehr Tiefpunkte als Höhenflüge zu bieten, und auf dem
Schiff verfügt er endlich über ausreichend Zeit, aus
seiner Vergangenheit aufzutauchen, alte psychische Verwundungen zu
erkennen und zu überwinden.
Geboren als ungeliebtes Russenkind, erzogen von der strengen
Großmutter, die einen Hang zu Übertreibungen
aufwies, kaum geduldet von der desinteressierten Mutter, die jung
gestorben ist, geschieden von der dauerteetrinkenden,
hundebegeisterten, yogabetreibenden Petra, angeblich abgelehnt von
seinem Sohn Sven, der bereits selbst ein Kind hat, gehasst von Gisela
und Conny, weiteren enttäuschten Frauen, Verlierer im
Scheidungsprozess, Abwickler dubioser einträglicher
Geschäfte, die ihm ein Justizverfahren eingetragen
haben, Mitspieler in der üblichen Berufswelthektik samt
Oberflächlichkeit, folglich zu hoher Blutdruck, Herzinfarkt,
Autounfall - so weit Lanmeisters Leben im groben Überblick.
Und nun, auf dem "Traumschiff", verspürt er plötzlich
wachsende Lust am Dazugehören, am erwachenden Bewusstsein,
wodurch weit mehr als das bisher Erfahrene in greifbare Nähe
gerückt ist, und langsam schwinden gewisse blinde Flecken, es
stellen sich mildere Ansichten ein, mitunter sogar eine gewisse
Altersweisheit, wobei Lanmeister durchaus noch störrisch und
unbeugsam sein kann, nur haben sich die Ausdrucksmittel
verändert.
Die Art, wie jemand lebt, ergibt sich aus dem Grad seiner Klarheit,
seines
"Bewusstseins", wie es im Roman heißt:
"Zu dem Bewusstsein gehört, keine Angst mehr zu
haben. Auch nicht vor der Sinnlosigkeit. Doch wenn das Bewusstsein zum
ersten Mal einsetzt, spürt man die Angst besonders. Dann darf
man nicht fliehen, sondern muss sich ihr stellen." (S. 46)
"Erst hat das Bewusstsein mich verändert, dann hat
sich in mir mein Schweigen verändert. Längst ist es
nicht nur noch Widerstand, dient nicht mehr alleine dazu, dass ich
mich
wehre." (S. 126,127)
Alban Nikolai Herbst hat sein stimmungsvolles Ambiente mit markanten
Figuren und Gegenständen ausgestattet, jedoch verbergen sich
hinter den Namen wohl (auch) andere Personen, als man auf den ersten
Blick annehmen könnte, je nach Lesart:
Senhora Gailint, auch "Lady Porto" genannt, eine
rothaarige "Keltin" aus Portugal, vormals Freundin des inzwischen
verstorbenen Monsieur Bayoun, von dem Gregor Lanmeister "Mah-Jongg",
das Sperlingsspiel, mit seinen einhundertvierundvierzig Steinen,
übernommen hat, Frau Seifert und ihr Gehstock, Mister Gilburn,
der über viel Humor und Sinn für Komik
verfügt, der irische Pfleger Patrick, durch dessen Augen
Lanmeister Lissabon sehen wird, die verehrte junge Pianistin Kateryna
Werschevskaja, die vom Icherzähler sogenannten "Tolstois"
(ein auffallendes Ehepaar), Tatiana, Zimmermädchen und
Pflegerin in Personalunion, wobei der Icherzähler die
Länder Russland, Ukraine und Moldawien nicht
auseinanderzuhalten vermag, der "Clochard", der immer bei einer Flasche
Rotwein über Kreuzworträtseln sitzt, (nun ja, fast
immer, wenn man ihn denn gelassen hätte), Feenseeschwalben,
fliegende Mantas, eine Nixe, der zunächst als lästig,
später als gar nicht unangenehm empfundene Besuch, der oft in
Tränen ausbricht ("Eben setzte sich jemand zu mir,
nahm meine Hand und gab vor, mich zu kennen.", S. 15; "Schon
die ganze Zeit über hält er meine Hand. Offenbar
versteht er nicht, dass von mir in ihr gar nichts drin ist.", S.
100), von dem der Icherzähler nicht einmal sagen kann, ob es
sich um einen Mann oder eine Frau handelt, und dem er auch kaum
zuhört, weil er eher eigenen Gedanken nachhängt, der
Arzt Doktor Samir, dessen religiöses Empfinden und
Lächeln Lanmeister nachhaltig beeindrucken, Signor Bastini,
Doktor Björnson, der "Hoteldirektor", der "Anzugmensch",
ein auffälliger Wichtigtuer, Madame Gellet, Buffalo Bill Cody
... und wie sie alle heißen bzw. genannt werden.
Lanmeister erfährt schicksalhafte Ereignisse in der "Stutennacht",
muntere Unterhaltungen am Rauchertisch und in der Raucherecke, ein
unverhofft beglückendes Erlebnis in der Badewanne, die
ergreifende Macht der Musik (ganz im Unterschied zur verachteten "Musi"),
als
ihm eine Art von Musiktherapie am Klavier
zuteil wird, und über allem schwebt der omnipräsente
Gedanke an den Tod: "Dass zu sterben vielleicht insgesamt
heißt, wieder kollektiv zu werden." (S. 182)
Es kommt allerdings auch zu Situationen, in denen sich die
zunächst als erhebend empfundene innere Kathedrale des
Schweigens als goldener Käfig erweist, ("Es
verhält sich doch so: Wenn eine Verstellung zur Gewohnheit
wird, dann wird sie schließlich zur Wirklichkeit",
S. 249), doch auch ein bewegendes Erlebnis mit der Pianistin Kateryna
Werschevskaja, als beide den Zikaden lauschen, ist dem Gebrechlichen
vergönnt.
Er vertieft sich immer wieder in die Betrachtung von Sternbildern und
Wettererscheinungen, beobachtet Spatzen und Delfine
und beschreibt seine Welt in Klängen und speziellen Farben
(z.B. "dienstagsrot", "spätkarfreitagsfarbene
Bäuche"). Er genießt mit einem Mal sogar
Kinderlachen und Fürsorge, bereut, verzeiht und verliert
Vergangenes aus den Augen, und nicht selten gleitet er unmerklich vom
Beobachten und Zuhören in den Schlaf.
Jedes Kapitel ist mit Koordinatenangaben (Geodaten)
überschrieben, und in diesen Angaben besteht allem Anschein
nach das einzig sichtbare Vermächtnis, denn: "Dem
Tod kommt es auf sprachliche Präzision nicht mehr an."
(S. 271)
Anzumerken ist, dass zahlreiche recht eigenwillig gebaute
Sätze vorhanden sind; bspw.: "Die Crema habe ich
schon mit aus zwei Papierheftchen dem Zucker verrührt."
(S. 269), "Wenn denen es nicht peinlich ist, muss es das auch
nicht mir sein." (S. 307)
Wobei es ja grundsätzlich geradezu an ein Wunder grenzt, dass
ausgerechnet dieser Icherzähler, der im Vorfeld des
"Traumschiffs" keinerlei Naheverhältnis zu
Kreativität erkennen ließ, im Zustand zunehmender
Hinfälligkeit eine derartige Lust am Sichmitteilen entwickelt!
Aber gut, bei Alban Nikolai Herbst bestehen denkbare
Möglichkeiten gern neben undenkbaren Umöglichkeiten,
und genau daraus resultiert nicht selten der spezielle Reiz seiner
Romane.
Übrigens sind Lanmeisters letzte Worte keine geschriebenen.
In diesem Sinne: Leinen
los,
volle Fahrt voraus!
(kre; 08/2015)
Alban
Nikolai
Herbst: "Traumschiff"
Mare, 2015. 317 Seiten.
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Noch
ein Buchtipp:
Martin Amanshauser: "Der Fisch in der Streichholzschachtel"
Auf der Karibik-Kreuzfahrt, die Fred mit seiner Frau Tamara und dem
pubertären Nachwuchs unternimmt, herrscht gähnende
Langeweile. Als der Familienvater an Bord ausgerechnet auf seine
Exfreundin Amélie trifft und das Schiff auch noch in einen
Orkan gerät, ist es mit der Seelenruhe schlagartig vorbei.
Der Kontakt zur Außenwelt ist unterbrochen, als eine Horde
eigenwilliger Piraten aus der Vergangenheit das Schiff
kapert. Diese haben es auf Pfefferstreuer und Toilettenpapier abgesehen
und reagieren panisch auf die technischen Errungenschaften aus dem 21.
Jahrhundert. Was zur
Hölle geht hier vor?
Eine hinreißende Satire, eine Liebesgeschichte mit Humor aus
einer Welt voller Wunder.
(Deuticke)
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