Heinz Helle: "Eigentlich müssten wir tanzen"
Überlebende
irren durch Heinz Helles verstörendes Verwilderungsspektakel:
Wenn nicht einmal mehr der Weg das Ziel ist, wird es gänzlich
uninteressant, denn auch gemeinsam ist man anscheinend nicht weniger
allein, und das rächt sich.
Eingeladen von Daniela Strigl, las
Heinz Helle im Rahmen der "37. Tage der deutschsprachigen Literatur" im
Jahr 2013 in Klagenfurt aus seinem Text "Wir sind schön".
Damals durfte sich Katja Petrowskaja über den Gewinn des
Hauptpreises freuen (Text: "Vielleicht
Esther"), Heinz Helle erhielt den mit 5.000 Euro dotierten
"Ernst-Willner-Preis".
Im Jahr 2014 erschien sein Roman "Der beruhigende Klang von
explodierendem Kerosin" -
und bereits im Herbst 2015 lag sein "nächster Streich" vor,
eben "Eigentlich müssten wir tanzen".
Dieser Roman stand auf der Nominiertenliste des "Deutschen
Buchpreises", doch kommt diesem Umstand anscheinend nur noch
eingeschränkte Bedeutung zu, wie Sandra Kegel im Feuilleton
der "F.A.Z" am 18.07.2015 unter dem Titel "Lieber nicht!"
festgestellt hat: "Peter
Handke, der 2008 mit der Erzählung 'Die morawische
Nacht' für die Longlist nominiert war, ließ sich
kurz darauf von der Liste wieder streichen. (...) Der Berliner
Romancier Ralf
Rothmann hat nun für sich eine ungleich elegantere
Entscheidung getroffen. Er lässt sich von seinem Verlag erst
gar nicht nominieren. Und auch die Bitte der Nachnominierung aus der
Jury hat er abschlägig beschieden. Dabei zählt sein
vor wenigen Wochen erschienener Roman 'Im Frühling sterben' zu
den herausragenden Büchern dieses Jahres. (...) Für
den Deutschen Buchpreis freilich ist das keine gute Nachricht. Denn
die
Auszeichnung gilt laut Börsenverein dem 'besten
deutschsprachigen Roman des Jahres'.
Vielleicht sollte es künftig besser heißen: dem
besten deutschsprachigen Roman, der eingereicht wurde."
Eine Verweigerung der Nominierung kann also ebenfalls für
werbewirksame Medienpräsenz sorgen - auf die Mechanismen des
modernen Literaturvermarktungsbetriebs ist Verlass, das Rauschen im
Blätterwald war deutlich zu vernehmen!
In dem mit 173 großzügig bedruckten Seiten
vergleichsweise schmalen Roman "Eigentlich müssten wir
tanzen", (übrigens findet sich der Buchtitel in einem Satz auf
Seite 123), geht es nicht zuletzt auch um moderne Eitelkeiten, aber
ebenso verhalten um existenzielle Fragen.
Schickte Thomas Glavinic in seinem Roman "Die
Arbeit
der Nacht" noch einen einzigen Überlebenden
in die weite Welt hinaus, genehmigte sich Heinz Helle gleich
fünf Figuren zur Abbildung seiner Gedanken, wobei vorab
anzumerken ist, dass es seinem kurzen Text an Eleganz mangelt und sich
kein Lesesog einstellt. Sehnsüchtig erinnert man sich an die
Lektüre von Christoph Ransmayrs überragendem Roman "Die
Schrecken
des Eises und der Finsternis", der ebenfalls den
Überlebenskampf von Männern zum Thema hat -
allerdings stilistisch überzeugend, einfühlsam und
mitreißend geschrieben.
Fünf Freunde im Schnee
Tatsächlich mutet Heinz Helle dem Leser eine Bruchlandung
mitten im Geschehen zu: Der aktuelle Besäufnisausflug von
fünf langjährigen Freunden verläuft
grundlegend anders als die bisherigen, denn als sie von ihrem in einer
Almhütte verbrachten Wochenende in die "Zivilisation"
zurückkehren, ist diese verschwunden, die Umgebung nicht
wiederzuerkennen: Das Gebiet ist entvölkert, beinahe
überall liegen, sitzen und hängen Leichen, alles ist
verkohlt, nur vereinzelt stoßen die Rückkehrer noch
auf andere Menschen, darunter gleich zu Beginn auf eine verletzte Frau,
die sie alle vergewaltigen, später auf ein verwaistes Kind,
und die Verbliebenen am Ende auf einen weiteren Fremden, der dieses
Zusammentreffen nicht überlebt.
Ausgebrannte Autowracks, geplünderte Supermärkte und
Einkaufszentren, die einstmals so schillernde Landdiskothek, nun ein
bizarres Krematorium: Endzeitszenarien und Kriegsschauplatzkulissen, so
weit das Auge reicht, dazu bittere Kälte und ausgedehnte
Nadelwälder, man befindet sich schließlich in Tirol.
Es ist neblig und regnet oder schneit häufig, die
Männer marschieren zunehmend sprachlos durch die
verwüstete Landschaft. Ihr neuer Alltag besteht aus der Suche
nach Brennmaterial, nach Schlafplätzen und Essbarem sowie
gegenseitigem Wärmen. Es zählt plötzlich nur
das nackte Überleben, auch wenn keiner so recht
weiß, womit er dieses verlängerte Dasein denn
eigentlich ausfüllen könnte.
In 69 Kurzkapiteln schildert der Icherzähler, vor der
unbestimmten Katastrophe Pilot, das Geschehen. Im Wechselspiel werden
die Gegenwart des völlig ziellosen, entbehrungsreichen
Marsches durch trostlose Szenerien und frühere Ereignisse des
einst normalen Alltagslebens der Freunde dargestellt.
Der mit erzählerischer Eiseskälte vorangetriebene
Gewaltmarsch fordert ein Opfer nach dem anderen; die Freunde sind nicht
zimperlich und von soldatischen Moralvorstellungen offensichtlich
meilenweit entfernt, wobei die unerwartete Brutalität dieser
Zivilisten unwahrscheinlich rasch durchbricht:
Als sich einer von ihnen einen Fuß bricht und daher nicht
weitergehen kann, wird er einfach todgeweiht allein
zurückgelassen. Ein anderer Schicksalsgenosse wird nach einer
schweren Verletzung kurzerhand mit einem Hammer erschlagen, ein
weiterer an einem Grenzposten von einer Mine zerfetzt.
Als Leser muss man eigentlich ständig auf abscheuliche Szenen
gefasst sein, beispielsweise stoßen die Männer auf
eine von einem Generator betriebene vollautomatische Melkmaschine, an
deren Schläuche verendete Kühe angeschlossen sind.
Gelegentliche Liedzeilen aus der Unterhaltungsschlagerindustrie, kurze
Gespräche über das Unwesen der Konsumgesellschaft und
Beschreibungen von Pornofilmsequenzen mindern das Grauen keineswegs.
Die Motive und Absichten des Autors wie auch seiner Figuren bleiben
unklar; dazu passend, wird auch nicht auf mögliche oder
tatsächliche Ursachen der Verwüstungen und des
Verschwindens der Menschen eingegangen. Alles dient nur als
Hintergrundbild für oberflächliche
Erörterungen und Episoden, einen entbehrungsreichen Marsch,
blutrünstige Vorfälle und geradezu banale
Erinnerungen des Icherzählers.
Manche Passagen wiederum geizen nicht mit schrulligem Pathos,
beispielsweise ist auf Seite 158 zu lesen: "(...) fallen
unsere Fäuste nach vorn, ganz natürlich, wie die
logische Fortsetzung unserer Bewegung, einer Bewegung des Folgens,
nicht mehr und nicht weniger, einer Jagd nach nichts Bestimmtem,
außer natürlich nach Glück,
nach Veränderung, nach einem Leben, das irgendwie anders als
das hier ist, und in unseren Fäusten die Waffen, Werkzeuge,
mit denen man Häuser bauen könnte, Stühle
und Tische, an denen man Mahlzeiten einnehmen könnte oder
universelle Werte errichten, und die Fäuste mit den Werkzeugen
fallen mitten in sein Gesicht (...)".
Etliche gesellschaftspolitisch relevante Themen werden bloß
angerissen, nichts wird befriedigend ausgeführt, alles bleibt
im nebligen Graubereich.
Man nimmt den Romanfiguren das ihnen angedichtete Elend einfach nicht
ab, sie lassen einen vollkommen kalt - und sich selbst auch, dieses
Eindrucks kann man sich nicht erwehren.
Dass der Icherzähler als letzter Überlebender nach
dem altruistischen Selbstmord seines Gefährten, gefolgt von
einem dankenswerterweise lediglich angedeuteten Akt des Kannibalismus,
am Ende eine Biedermannzukunft mit Feuchtigkeitscreme auf der
Handfläche herbeifantasiert, spricht wohl Bände.
Heinz Helle schildert unerklärliche und grausame Geschehnisse
äußerst nüchtern und unbeteiligt,
uninspiriert und lieblos, sodass "Eigentlich müssten wir
tanzen" entweder eine beabsichtigte Leser(ent)täuschung
darstellt - oder aber eine geniale, brutale, einschüchternde
Warnung an alle, die mit sich und ihrem Leben nichts anzufangen wissen,
egal, in welcher Umgebung und in welcher Gesellschaft.
(kre; 09/2015)
Heinz
Helle: "Eigentlich müssten wir tanzen"
Suhrkamp, 2015. 173 Seiten.
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Heinz
Helle, geboren 1978, Studium der Philosophie in München und
New York, Arbeit als Texter in Werbeagenturen, Absolvent des
Schweizerischen Literaturinstituts in Biel.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin"
Vom Leben, vom Lieben, vom Feind im eigenen Kopf.
Was passiert: Ein Philosoph scheitert bei dem Versuch, seine Theorie
von Erleben mit seinem Erleben in Einklang zu bringen. Ein Mann
scheitert bei dem Versuch, eine Frau zu lieben. Einem Menschen gelingt
es, in eine Kneipe
zu gehen und sich ein Fußballspiel
anzuschauen.
Worum es geht: Es geht um den Geschmack von Kaffee am frühen
Morgen und um das Problem des Bewusstseins. Es geht um einen deutschen
Studenten in
New York, um einen Mann und eine Frau. Es geht um ein
Kind, das nicht zur Welt kommt. Es geht um Liebe und ihr Verschwinden.
Es geht um Wichtiges und Unwichtiges und um die Frage, wie man das Eine
vom Anderen unterscheidet. Es geht um Philosophie.
Und um Fußball.
(Suhrkamp)
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