Arno Gruen: "Wider den Terrorismus"
Erstmals
im Jahr 2002 erschienen, hat der in der Schweiz praktizierende
Psychoanalytiker Arno Gruen sein Buch nach den Anschlägen in
Paris auf die Redaktion der Zeitschrift "Charlie Hebdo"
überarbeitet und neu veröffentlicht. Seine
Hauptthesen aber sind die gleichen geblieben. Man kann, so sagt der
Psychoanalytiker, den Terrorismus, gleich wo und wie er sich auf dieser
Erde zeigt, nicht durch Argumente bekämpfen. Es geht, wie
viele Intellektuelle in der Vergangenheit fälschlicherweise
glaubten, nicht um abstrakte Gedanken oder irgendwelche Ideale oder
politische Ziele, sondern es geht immer um Todessehnsüchte.
Sie dienen einem leeren Selbst dazu, vor dieser Leere davonzulaufen.
Der Schlüssel zum Verständnis des Phänomens
Terrorismus ist die Kindheit. Am Beispiel des "IS" schreibt Gruen: "Der
Feind
ist weiblich, und man selbst ist das idealisierte Bild des
starken, großartigen Mannes. Natürlich verbergen
sich hinter dieser Haltung kindliche Ohnmachtsgefühle und der
innere Terror, der mit den erziehenden Autoritäten erlebt
wurde. Diese alten Empfindungen werden jedoch erst durch aktuelle
Demütigungen wieder erweckt, durch Gefühle von
Wertlosigkeit und Hoffnungslosigkeit, die Hunderte Millionen
unterdrückter Menschen in der Welt miteinander
teilen. Dort, wo die frühe Kindheit in besonders starkem
Ausmaß als terrorisierend erlebt wurde, führt die
alte Ohnmacht zu grandiosen Machtphantasien und einer erbarmungslos
destruktiven Gewalt."
Mit wirklicher Kraft hat das alles nichts zu tun. Echte Kraft, so
Gruen, entstehe durch das Erleben von Leid und Schmerz. Nur dadurch
erleben wir, dass Sicherheit ein Zustand in uns selbst ist, eine Art
innerer "Kohärenz, die auch bestehen bleibt, wenn
wir schwach und hilflos sind."
Wer in seiner Kindheit liebe- und verständnisvoll in seinem
Schmerzerleben begleitet wird, der kann ein Sich-Selbstsein entwickeln.
Durch liebevolle Begleitung erleben, dass der Schmerz nicht
tötet, lässt über die Zeit ein
Gefühl der Stärke wachsen. Es ist von Dauer und muss
sich nicht immer im Wettstreit mit Anderen beweisen. Diese innere Kraft
ist dann die Grundlage dafür, Mitgefühl für
Andere zu empfinden und daran festzuhalten. "Wir erfahren auf
diese Weise, dass wir anderen etwas geben können und dass auch
Altruismus eine Quelle der Kraft ist."
Wir müssen unseren Kindern eine wahre Kindheit
ermöglichen, die sich an eigenen empathischen Wahrnehmungen
und Bedürfnissen orientiert. Darin allein sieht Gruen die
Rettung der Menschheit.
Der Rezensent ist absolut sicher, dass Arno Gruen mit seiner Analyse
ins Schwarze trifft. Doch wenn man sieht, wie wir selbst in einem
reichen Land wie Deutschland mit unseren kleinen Kindern umgehen, von
der geplanten einfachen Kaiserschnittgeburt, über die Krippe
ab dem ersten Lebensjahr bis hin zur vollständigen Abtretung
von Erziehung an den Staat, ist man skeptisch, was die Zukunft betrifft.
In Gesprächen mit Erziehrinnen und Lehrerinnen sagen diese
übereinstimmend (wenn niemand sonst zuhört!): Vor
zehn Jahren hatten wir in der Gruppe (Klasse) vielleicht drei bis vier
schwierige Kinder. Heute sind wir froh, wenn wir in einer Gruppe zwei
bis drei haben, die man als normal entwickelt bezeichnen kann. In
gleichem Maße, so die Profis, habe die Bereitschaft der
Eltern, bei einem Rat oder einer Hilfestellung auch
nur
zuzuhören, geschweige denn, die Hilfe anzunehmen, abgenommen.
Eine unselige Entwicklung, die unendlich traurig macht.
(Winfried Stanzick; 04/2015)
Arno
Gruen: "Wider den Terrorismus"
Klett-Cotta, 2015. 88 Seiten.
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Arno Gruen starb am 20.
Oktober 2015 im Alter von 92 Jahren in Zürich.
Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Wider den Gehorsam"
Wer den Mut zum Ungehorsam hat, der entzieht sich nicht nur
vermeintlichen Autoritäten, sondern nimmt die Menschen
lebendig und mitfühlend wahr. Wie sehr die Kultur des
Gehorsams entmenschlichen kann und welche Wege aus dem Kreislauf der
Unterordnung führen, zeigt Arno Gruen: ein befreiendes
Plädoyer für mehr Mitmenschlichkeit. (Klett-Cotta)
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"Dem Leben
entfremdet.
Warum wir wieder lernen müssen zu empfinden"
Wir leben in einer vollkommen durchkonstruierten Welt und sind
unfähig, lebendig, mitfühlend und emphatisch die
Wirklichkeit wahrzunehmen. Anlass für eine Fundamentalkritik
an unserer Zivilisation durch den bedeutenden Psychoanalytiker und
Gesellschaftskritiker Arno Gruen. (dtv)
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"Verratene Liebe - Falsche
Götter"
Wie und warum werden wir zum willfährigen Werkzeug der Macht?
Arno Gruen bietet keine neue und "erlösende" Schuldzuweisung,
sondern er dringt zu jenem Kern in uns vor, für den wir selbst
die Verantwortung tragen. Dort fängt die Entmachtung der Macht
und eine friedensfähige Zukunft an.
Der Mensch strebt nach Autonomie, aber er unterwirft sich
Autoritäten. Er verlangt nach Liebe, aber er macht sich
abhängig. Wer ihm Glück
verheißt, dem folgt
er, ohne zu erkennen, dass der Weg ins Unglück führt.
Warum ist das so? Wo liegen die Ursachen solch
selbstzerstörerischen Verhaltens?
Ohne dass es uns bewusst ist, haben sich schon in unserer Kindheit
Selbstverachtung und Selbsthass in unserem Inneren eingenistet. Daraus
entsteht eine lebenslange Verkettung von Hass, Schuld und
Selbstmitleid. Die Suche nach Erlösung aber wird
draußen gesucht, wo zahlreiche "falsche Götter" uns
Liebe in Aussicht stellen, tatsächlich aber nur Gefolgschaft
erwarten. Wir folgen denen, die uns verachten, weil wir das Opfer in
uns selbst hassen. Und so fängt die Verdrehung der Liebe an.
Wir lieben, was wir hassen, und hassen, was wir lieben
könnten. Dies hat politische Konsequenzen: Wir treten den
Aggressoren bei. (Klett-Cotta)
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