Jenny Erpenbeck: "Gehen, ging, gegangen"


Flüchtlinge und Pensionisten: Mit dem Kopf voran in die Grube.

Die Handlung dieses Romans von Jenny Erpenbeck ist uns allen geläufig: Es geht um Flüchtlinge, um Pensionisten, aber vor allem um Zeit. Leere Zeit, um es zu präzisieren, Warten und das Vergehen der Zeit werden zu Hauptakteuren. Denn sie alle haben sehr viel davon.
Richard, Professor für Alte Sprachen an der Universität, verwitwet und kinderlos, hat plötzlich viel Zeit, denn er wurde emeritiert und in den Ruhestand geschickt. Auf einmal ist er mit sich allein und kann tun, was ihm Spaß macht. Bis zum Ende. Dann mit dem Kopf voran in die Grube. Das ist der Plan, der eigentlich niemanden interessiert.

Zeit im Überfluss hat auch eine andere Gruppe von Menschen, die im Zentrum von Berlin um Wahrnehmung kämpft. Afrikanische Flüchtlinge, die in Hungerstreik treten, um in Deutschland leben und arbeiten zu können, aber nicht sagen wollen, wer sie sind. Stattdessen nur ein Pappendeckel mit der Aufschrift: "We become visible". Erst als sie in den Abendnachrichten vorkommen, bemerkt sie auch der emeritierte Professor, der doch am selben Tag an diesem Platz vorbeigekommen ist. Aber diese Idee, sich sichtbar zu machen, indem man seinen Namen verschweigt, gefällt ihm und erinnert ihn an Odysseus, der sich Niemand genannt hat, um aus der Höhle der Zyklopen zu entweichen. Sein Interesse ist geweckt. Wer sind diese Menschen? Woher kommen sie? Und er beginnt sich zu informieren, über Ghana, Niger, Burkina Faso. Es ist, als ob er am Beginn eines neuen Projektes stehen würde, dessen Ausgang offen ist.

Das sind die zwei Welten, die in Erpenbecks Roman anfangs losgelöst voneinander, aber nebeneinander, bestehen, und die sich im Lauf von 300 gedruckten Seiten langsam aufeinander zu bewegen. Der Professor fängt an, einzelne Flüchtlinge nach ihrem Schicksal zu befragen und, mit aller professoralen Distanziertheit, Anteil zu nehmen. Er ist da als Ansprechpartner und Unterstützer, hilft diesem und jenem, lädt manche zu sich nach Hause ein. Er bekommt Einblick in die Gesetzeslage in Deutschland und in die Kriegswirren Afrikas. Er macht sich kundig, ohne sich zu erregen. Die Flüchtlinge wiederum nehmen die Hilfe fast gleichmütig an, wohl ahnend, dass es keine Hilfe ist, die ihre Situation nachhaltig ändern kann. Ihnen bleibt nur das Warten, das sie nicht einmal mit einem privaten Forschungsprojekt wie der Herr Professor füllen könnten.

Keine Frage, Jenny Erpenbeck behandelt ein brisantes Thema, das aktueller nicht sein könnte. Trotzdem widersteht sie der Versuchung, ein Pamphlet oder eine Streitschrift zu verfassen. Geduldig zeichnet sie dafür ein deutsches Panorama wie ein Sittenbild.

Der erste Blick auf die Szenerie, der uns gewährt wird, ist nicht sehr einladend. Müde der Pinselstrich, blass die Konturen und Farben, als ob es nur mehr ein in einer Pfütze zufällig gespiegeltes Abbild einer bunteren Welt an einem grauen Regentag wäre. Man kann die handelnden Personen kaum ausmachen. Da, im Vordergrund, ein älterer Herr, unauffällig in seiner Erscheinung, dort, im Hintergrund, eine graue Schar von jüngeren Männern mit dunkler Hautfarbe. Sie stehen einander gegenüber, ohne sich wahrzunehmen. Während die Autorin mehr Wörter hinzufügt, werden die Konturen genauer und erkennbarer, und allmählich entsteht ein Bild unserer Gegenwart, das wir alle gut kennen und gleichzeitig auch nicht kennen. Dessen ungeachtet bleiben die Figuren der Flüchtlinge trotz ihrer persönlichen Geschichten schemenhaft, genauso wie ihr zukünftiges Leben. Nur der Professor gewinnt an Kontur, für die Leser wie auch für sich selbst.

Erpenbecks Roman ist vielleicht keine große Literatur. Die Sprache der Autorin ist schlicht, die Worte sind bescheiden, und der Anfang ist recht mühsam. Trotzdem lohnt es sich, weiterzulesen und sich gemeinsam mit dem alten Professor und den Flüchtlingen Gedanken über uns, unsere Gesellschaft, unsere Gegenwart und unsere Zukunft zu machen.
Das große Plus der Jenny Erpenbeck: Sie ist eine unaufgeregte Chronistin. Das Sittenbild, das sie zeichnet und malt, gleicht einem Stilleben, in dem die Zeit aufgehoben zu sein scheint. Alles ist, wie es war, wie immer, wie später. Die Protagonisten sind dazu verdammt, zu warten. Der Professor auf sein Ende, die Flüchtlinge auf ihre Zukunft. Auf jeden Fall mit dem Kopf voran in die Grube.

(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 10/2015)


Jenny Erpenbeck: "Gehen, ging, gegangen"
Knaus, 2015. 352 Seiten.
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