Anne Enright: "Rosaleens Fest"
Eine ganz besondere
irische Familie
Wie bereits in ihrem mit dem "Booker-Preis" gekrönten Roman "Das
Familientreffen", beschäftigt sich Anne Enright wieder mit dem
Innenleben einer Familie, mit den Lasten, die Kinder ihr Leben lang mit
sich schleppen und wie sie damit umgehen.
Der deutsche Titel "Rosaleens Fest"“ suggeriert, dass es sich in erster
Linie um ein Familienfest handeln würde, was nur bedingt stimmt, denn
der Großteil dieses hervorragenden Textes beschäftigt sich mit
Rosaleens vier Kindern, die aus allen Ecken der Welt
zusammenkommen, um ein letztes Weihnachtsfest in dem Haus in Ardeveen
(einer erfundenen Stadt im irischen County Clare) zu feiern, in dem sie
alle aufgewachsen sind, bevor Rosaleen das Haus verkauft.
Wer hier eine Familiengeschichte á la Rosamunde Pilcher erwartet, wird
erfreulicherweise sehr enttäuscht sein. Anne Enrights Prosa ähnelt dem
Wetter, das man generell in Westirland erwarten darf, sie ist kalt,
präzise und legt schonungslos alle offenen Wunden frei, die den Kindern
der mittlerweile 76-jährigen narzisstisch gestörten Egomanin noch immer
Probleme bereiten.
Die Autorin zieht ihren Roman als Ansammlung fragmentarischer Einblicke
in das Leben ihrer Protagonisten auf, die riesengroßen Löcher, die sich
dabei auftun, lässt sie bewusst unbehandelt, was hier interessanterweise
wirklich dazu beiträgt, dass man auch die Protagonistinnen und
Protagonisten als zerrissene, verletzte und unglückliche Figuren erlebt,
mit denen man sich eindeutig identifizieren kann. Die einzige
Hilfestellung, die Anne Enright dem Leser als Rettungsring anbietet, ist
eine Betitelung der verschiedenen Kapitel nach dem Prinzip: Name, Ort
und Jahr.
Enright beginnt mit Hanna, die wir als kleines Mädchen anno 1980
kennenlernen, immer wieder auf dem Sprung in die Apotheke ihres Onkels
Bart, um ihrer Mutter absurd dubiose Medikamente zu beschaffen. Rosaleen
hat hier bereits den divenartigen Spleen entwickelt, immer
wieder tageweise bzw. wochenlang im Bett zu verschwinden, ab dem Moment,
wo der bildhübsche Sohn Dan verkündet, dass er Priester werden will,
nimmt Hanna diese Eigenart auch bewusst wahr. Etwas später erfährt man,
dass Dan (nun 1991 in
New York) bereits in der New Yorker Homosexuellenszene unterwegs
ist. Eine besondere Zeit, die unter der Bedrohung der noch unerforschten
und unbekannten tödlichen Krankheit
steht, die sich da bereits breit gemacht hat.
Die irische Autorin schafft es immer wieder, innerhalb dieser
fragmentarischen Erzählungen für großartige Stimmungen und in der Tat
beklemmenden Szenen zu sorgen. Constances Mammografie bzw. der dieser
vorangehende Aufenthalt im Wartezimmer beispielsweise, oder auch Hannas
Alkoholproblem. Emmet lebt in
Afrika, wo er Gutes zu tun versucht und ein Leben mit Freundin und
Dienstboten führt (und einem problematischen Straßenhund). Was er
allerdings in Afrika genau macht, erfährt man nicht.
Alle sind in Wahrheit unglücklich, mit sich, mit ihrem Leben. Die Kinder
und die Mutter, die in der Vergangenheit nichts getan hat, um eine warme
und unterstützende Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen.
Die Geschwister sind einander eigentlich recht fremd, und beim
weihnachtlichen Zusammentreffen in Ardeveen merkt man, wie stark diese
vererbten Lücken im zwischenmenschlichen Umgang wirken, wie
oberflächlich und knapp man die "wichtigsten" Informationen austauscht:
Beziehungsstand, Lebensort, Auto. Punkt.
Am ersten Weihnachtsfeiertag begeht Rosaleen einen misslungenen Selbstmordversuch,
bei dem sie fast erfriert. In der Zeit danach ist Rosaleen ein neuer
Mensch, der zur Freude aller plötzlich davon begeistert ist, am Leben
zu sein. Bevor sich das ändern kann, endet der Roman.
Die große Kunst dieses Romans ist die nüchtern sezierende Erzählweise
der großen irischen Autorin, die schonungslos und ohne Betäubung an den
Wunden ihrer Figuren arbeitet, sie dem Leser zur Schau stellt. Die
Übersetzung Hans-Christian Oesers ist ausgezeichnet, sie trifft den
Duktus des Originals auf den Punkt. Auch der Mangel an jeglicher
Sentimentalität hilft dabei, dieses Buch von gefährlichen Klischees
wegzubringen und ein Werk großer Kunst werden zu lassen.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 11/2015)
Anne Enright: "Rosaleens Fest"
(Originaltitel "The Green Road")
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser.
DVA, 2015. 379 Seiten.
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