Mahmoud Doulatabadi: "Nilufar"
Über
die Erinnerung an eine verlorene Liebe
Der am 1. August 1940 im persischen Dowlatabad geborene Schriftsteller
Mahmoud Doulatabadi (auch Dowlatabadi) ist wahrscheinlich einer der
interessantesten Autoren Irans. Größeres Interesse
an seinen literarischen Werken existiert im deutschsprachigen Raum
allerdings erst seit dem Erfolg des Romans "Der Colonel" vor einigen
Jahren. Sein Lebensweg ist ebenso interessant wie sein Schaffen.
Nachdem er im Alter von dreizehn Jahren sein Heimatdorf verlassen
hatte, lebte er in der Nähe von Teheren in Eyvan-e key, wo er
als Schafhirte, Fahrradmechaniker, Kartenkontrolleur in einem Kino,
Souffleur und Lagerverwalter arbeitete, um durchzukommen. Trotz
fehlenden Schulabschlusses besteht er als Zwanzigjähriger die
Aufnahmeprüfung an einer Schauspielschule. Danach arbeitete er
fast fünfzehn Jahre lang als Schauspieler, bevor er
während einer Aufführung eines Stückes von
Maxim Gorky direkt von der Bühne weg verhaftet wurde und
dafür zwei Jahre im Gefängnis verbrachte.
Der Protagonist dieses Romans, Gheiss (eine Anspielung auf den
arabischen Liebesdichter al-Qais?), findet auf einer Parkbank ein
Notizbuch. Er irrt in seinem zerknitterten Regenmantel in einer
dunklen, kalten Nacht durch die Straßen einer
europäischen Stadt, setzt sich in ein Kaffeehaus und beginnt,
in dem Notizbuch zu lesen. Eigentlich stellt er sich vor, dass ihm
Nilufar aus diesem Notizbuch vorliest. Nilufar war vor vielen Jahren
seine Geliebte, ihre Beziehung hatte elf Jahre gedauert, lange ist sie
nun bereits vorbei. Er erinnert sich an ihr plötzliches
Erscheinen, die tiefgehende Verbindung, die zwischen den beiden
bestanden hatte, und das plötzliche Verschwinden.
Nichtsdestotrotz vergöttert er sie, verkörpert sie
den Inbegriff der vollkommenen Frau für ihn. Ihre Flucht hatte
bei ihm absolute Verzweiflung ausgelöst und sogar
Mordpläne in seinen Gedanken entstehen lassen. Einer der
Gründe für das Misslingen der Beziehung war die
konservative Familie und der herrschsüchtige, patriarchalische
Vater, dem die Meinung der Nachbarn wichtiger als das Befinden seiner
Tochter war.
In vielerlei Hinsicht ist "Nilufar" ganz anders als die
früheren Romane dieses großen Autors, wie z.B.
"Keludar", "Der leere Platz von Ssolutsch" oder "Der Colonel". Eine
Abkehr von den ländlichen Motiven, der epischen
Erzählweise und einer klassisch nachvollziehbaren Handlung ist
eindeutig bemerkbar. Dafür wendet er sich verstärkt
den Anspielungen in der persischen Literatur zu.
Nizami
und Rumi
kommen ebenso vor, wie Hafis
oder Sadegh Hedayat ("Die blinde Eule").
Während "Der Colonel" der iranischen Zensur zum Opfer fiel,
erhielt "Nilufar" bereits anno 2003 die Freigabe. Das mag daran liegen,
dass die Zensurbehörde mit den fein verästelten und
versteckten Anspielungen nicht viel anzufangen wusste. Vielleicht aber
auch daran, dass dieser Roman, obwohl kritisch in Bezug auf die
traditionelle iranische Familiensituation, politisch nicht brisant ist,
was man von "Der Colonel" natürlich nicht behaupten kann.
Nichts ist hier nur das, was es vermeintlich sein soll, nichts passiert
von ungefähr. Virtuos lässt Mahmoud Doulatabadi die
Erzählperspektiven, Erzähler und
Erzählstränge ineinander übergehen,
zerfließen, wieder auftauchen, kurz eigene Wege gehen, um mit
einem wunderschön in Stein gemeißelten Satz den
Leser zum Anhalten, Staunen und Nachdenken zu zwingen, die Anspielungen
zu suchen, die Doulatabadi hier versteckt hat.
In diesem Sinn ist "Nilufar" alles, aber keine leicht zu lesende
Lektüre. Zusätzlich bleiben am Ende bewusst viele
Fragen offen, wie zum Beispiel die nach der (wahren) Identität
des Protagonisten Gheiss, die den Leser selbst nach Beendigung des
Buches noch lange beschäftigen.
Wovon handelt "Nilufar"? Diese Frage hat sich der Rezensent beim Lesen
und danach immer wieder gestellt. Einerseits von der Poesie der
Erinnerung, von den Trugbildern und den Schatten der
Zurückweisung. Von der Liebe, der Vergangenheit und der Suche
nach dem Ich. Von der Poesie,
der Literatur und Persien. Von den
Geißeln der persischen Gesellschaft sowie von der Liebe zur
Heimat.
Wunderbar übersetzt, ist "Nilufar" definitiv große
Literatur, ein Roman der ganz feinen, stillen und philosophischen
Sorte. Aber auch ein Buch, das zermürbt und fordert, das den
Leser dazu zwingt, rege und aktiv bei der Sache zu sein, um ihn am Ende
mit der Einsicht zu hinterlassen, dass in unserer
Vergänglichkeit nichts fassbar und erklärbar ist.
(Roland Freisitzer; 03/2015)
Mahmoud
Doulatabadi: "Nilufar"
(Originaltitel "Ssolouk")
Aus dem Persischen von Bahman Nirumand.
Unionsverlag, 2013. 216 Seiten.
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Weitere
Bücher des Autors (Auswahl):
"Der Colonel"
Eine pechschwarze Regennacht in einer iranischen Kleinstadt, ein altes
Haus. Der Colonel hängt seinen Gedanken nach. Erinnerungen
stürmen auf ihn ein. An seine Jahre als hochdekorierter
Offizier der Schah-Armee. An seine Kinder, die ihren eigenen Weg
gingen, sich den Revolutionsgardisten Khomeinis angeschlossen haben und
in den Krieg zogen, in die Leidenschaften der Revolution und des Todes.
Durch die Gassen werden die gefallenen "Märtyrer"
getragen, in der Stadt werden ihnen Denkmäler gebaut. Es
herrscht Krieg - "diese giftige, fleischfressende Pflanze".
Und im Haus sind Geheimnisse verborgen: Ein Sohn versteckt sich im
Keller, gepeinigt von den Albträumen seiner Erinnerungen. Da
klopft es an die Tür. Der Colonel wird abgeführt, zur
Staatsanwaltschaft ...
Doulatabadi wirft mit diesem
Roman ein Licht auf die
Umwälzungen, die den Iran bis in die Gegenwart heimsuchen.
(Unionsverlag)
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"Die alte Erde"
Gholam, der Mann mit dem Motorrad und dem feuerroten Kampfhahn, ist
kein Bauer wie all die andern Männer in diesem Dorf am Rande
der Salzwüste. Er wohnt in der Karawanserei und hat ein Auge
auf den Acker der schönen Witwe Adeleh geworfen. Aber diesen
Boden bearbeitet seit alten Zeiten Baba Sobhan, der zähe,
gütige Alte mit seinen beiden Söhnen. Was wird aus
seiner Sippe, wenn er den Acker verliert? Das Verhängnis
beginnt, als die schöne Witwe Gefallen an dem Mann mit dem
Motorrad findet und Baba Sobhan die Pacht aufkündigt. Auf dem
Dorfplatz bei der Teestube, vor der versammelten Dorfgemeinschaft,
vollzieht sich die unausweichliche Tragödie. (Unionsverlag)
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"Kelidar"
Der Stamm der Kalmischi weiß keinen Ausweg mehr. Die Herden
werden von der Seuche dezimiert, die Steuereintreiber
bedrängen sie, die Blutrache droht. Da ziehen die
Männer und Frauen in die Berge. Weil sie sich über
jedes Gesetz stellen und zu Räubern werden, beginnen die
Legenden um sie zu wachsen. Heimlicher Held dieses epischen Romans
aber
ist das Land Chorassan, die Wiege der nomadischen Kultur, mit seinen
Steppen, Bergen und Naturgewalten, seinen uralten Städten,
geduckten Dörfern und stolzen Zeltsiedlungen. Auf diesem
Hintergrund leuchtender Farben zeichnet Doulatabadi das Geflecht
intensivster Regungen und Verstrickungen, das die Menschen in der
Größe ihrer Gefühle aneinanderkettet. Der
Reichtum von Doulatabadis Sprache scheint unerschöpflich. Er
spielt mit den Techniken der traditionellen Vortragskunst und bricht
sie durch einen modernen assoziativen Fluss des Erzählens.
"Kelidar", so Doulatabadi, ist ein Buch der Liebe: Liebe zwischen
Mann
und Frau, die Liebe zwischen Freunden,
die Liebe des Menschen zur Erde
und zur Natur,
zwischen Mensch und Tier. "Kelidar" wurde 1968 bis 1983
geschrieben und erschien zwischen 1979 und 1984. Der
vollständige Zyklus umfasst zehn Bücher in
fünf Bänden. Die ersten beiden, in sich
abgeschlossenen Teile erscheinen auf Deutsch in diesem Band.
(Unionsverlag)
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"Der leere Platz von Ssolutsch"
Seit Tagen schon haben sie nicht mehr miteinander geredet. Abends
hatte
er sich an den Backofen gerollt, und morgens war er verschwunden,
ohne
sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Ssolutsch war in den
letzten Tagen verwirrt, verstört gewesen, aber auch Mergans
Lippen waren wie von unsichtbarer Hand verschlossen. Eines Morgens
ist
der Platz neben ihr leer: Ssolutsch hat sie und seine Familie
verlassen. Mergan muss nun alleine für ihre Kinder sorgen. Aus
dem kargen Leben wird ein erbarmungsloser Überlebenskampf.
(Unionsverlag)
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Noch
ein Buchtipp:
Louisa Shafia: "Die neue Persische Küche"
Geprägt durch ihren multikulturellen Hintergrund, begibt sich
die Autorin, Tochter eines im Iran geborenen Vaters und einer aus
der
aschkenasisch-jüdischen Tradition stammenden us-amerikanischen
Mutter, auf eine Spurensuche zu ihren persischen Wurzeln. Sie
präsentiert 80 klassische persische Rezepte - von Vorspeisen
über Eintöpfe und Schmorgerichte bis hin zu Desserts
-, die sie auf zeitgemäße Art, mit modernen
Küchentechniken und schlauen Zubereitungsmethoden, neu
interpretiert. Die Gerichte sind geprägt von kraftvollen
Aromen und den typischen Zutaten der persischen Küche wie
Rosenblütenblätter, Granatapfel, Tamarinde, Sumach
und Safran. Eine sinnlich-opulente und exotisch verführerische
Küche, auf moderne Art und einfach nachkochbar umgesetzt. (AT
Verlag)
Buch
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