Sigismund Krzyżanowski: "Der Club der Buchstabenmörder"
Buchstaben
brauchen Bücher, Bücher brauchen Buchstaben und Leser!
Dem Schweizer Dörlemann Verlag und der renommierten
Übersetzerin Dorothea Trottenberg ist es zu verdanken, dass
"Der Club der Buchstabenmörder", ein in den Jahren 1925/1926
entstandenes vergessenes Kleinod der russischen Literatur, nun auf
Deutsch vorliegt.
Ebenso bewährt wie beliebt sind von einer losen Rahmenhandlung
umfangene Einzelerzählungen, die in trauter Runde zu
Gehör gebracht werden. Einer der bekanntesten Vertreter dieses
Genres dürfte wohl nach wie vor Giovanni Boccacios "Decameron"
aus dem 14. nachchristlichen Jahrhundert sein.
Wenngleich die Figuren in "Der Club der Buchstabenmörder"
nicht um ihr Leben erzählen müssen wie die
schöne Schahrasad in "Tausendundeine
Nacht" und auch keine Themenvorgaben existieren: Im Club
gelten strenge Regeln, deren Missachtung nicht ohne Folgen bleibt.
Ein meisterhaftes Geschichtencrescendo am Kaminfeuer
Sigismund Krzyżanowskis
"Der Club der Buchstabenmörder" versammelt einen illustren
Kreis absichtlich verhinderter Schriftsteller, die sich
nämlich auferlegt haben, nichts niederzuschreiben, und daher
jeden Samstag Gleichgesinnten ihre Werke vortragen.
Man spricht einander clubintern mit sinnfreien einsilbigen Kurznamen
an, trifft allwöchentlich ganz verschworen in einem
abgeschotteten Zimmer mit leeren Bücherregalen zusammen und
frönt der verbindenden Leidenschaft, anspruchsvolle
Geschichten mit Unterhaltungswert vorzutragen, zu hören und zu
diskutieren.
Eine Art erweitertes "Literarisches Quartett" sozusagen, nur eben
gänzlich ohne Bücher! Wobei der dominante Gastgeber
mit seinem Monopol auf Beurteilungen, wütenden Zwischenrufen
und besserwisserischen Einwänden durchaus
gelegentlich Erinnerungen an Marcel
Reich-Ranicki wachruft, und wie einst auch in dessen
legendären Diskussionsrunden, bleiben unter den sogenannten
"Ideenfindern" Zerwürfnisse unterschiedlicher Schweregrade
keineswegs aus ...
In sieben Kapiteln erschließen sich Sein und Nichtsein der
"Buchstabenmörder":
Der Icherzähler stößt vermeintlich
zufällig zum Club, nachdem ihm der Hausherr, einst durch die
Schriftstellerei zu Wohlstand gelangt, seinen Werdegang und seine
daraus resultierende tiefste Abneigung gegenüber Buchstaben
erläutert hat und ihn einlädt, fortan den Treffen
beizuwohnen.
"Laut knackte der Schlüssel, dann der Lichtschalter.
Ich fand mich in einem quadratischen Raum: Ganz hinten, der
Tür gegenüber, ein Kamin; vor dem Kamin, im Halbkreis
angeordnet, sieben schwere, geschnitzte Sessel; an den mit dunklem
Tuch
bespannten Wänden Reihen schwarzer, vollkommen leerer
Bücherregale."
(S. 15/16)
Der Icherzähler wird Zeuge einiger Vortragsabende und lernt
nach und nach die unterschiedlichen Temperamente und Charaktere der
Clubmitglieder kennen. Seine eigene Rolle erschließt sich ihm
jedoch erst im weiteren Verlauf der nur angedeuteten Rahmenhandlung,
und ihm überlässt Krzyżanowski das wohlverdiente
Schlusswort.
Doch zunächst nimmt der namenlos bleibende
Icherzähler im zweiten Kapitel am dreiundsiebzigsten Samstag
des Clubs teil. Rar, der offenbar intern als Abweichler gilt und den
Erzähler von Anfang an besonders interessiert, bringt seinen
Text "Actus morbi" zu Gehör, der von der Schauspielerei an
sich, den Nöten der Darsteller, der magischen
Verselbstständigung von Rollen in einer Parallelwelt und deren
Aufsplitterung handelt und in Variationen bestimmter "Hamlet"-Szenen
gekleidet
ist. Doch hat der Redner einen schlimmen Fauxpas begangen: Er
trägt das Manuskript bei sich, welches prompt sein Ende im
Kaminfeuer findet, da kennt die Runde kein Pardon, in erster Linie
duldet jedoch der gnadenlose Hausherr keine Widerrede. Unter der
Oberfläche der so verschworen wirkenden Gesellschaft brodelt
es zunehmend, die mitunter erzwungene Harmonie ist somit lediglich eine
scheinbare.
Im dritten Kapitel trägt Tyd "Die Eselsmesse" vor, eine an die
Machart historischer Romane angelehnte Erzählung, in der
religiöse Motive und Begriffe wie Liebe und Seelenheil den
Verlauf prägen. Doch die Zuhörerschaft verlangt
"Zugaben", und so folgen zuerst "Der Reisesack des Goliard", mit anders
verteilten Rollen und einem Kirchendiener zwischen Priesterkutte und
Narrenkluft, der den Freitod wählen muss, danach "Notker der
Stammler" und "Die vier Evangelien". Themen sind die vollendete Stille
und ein Evangelium des Schweigens.
Mit der Erzählung "Exen" unterhält Dag im vierten
Kapitel die Runde, er entwirft die negative Utopie einer modernen
Maschinenwelt, in der die Masse ferngesteuerter, gleichgeschalteter
Menschen von Politikern geknechtet wird, wobei die Abkoppelung des
Körpers vom Geist der modernen Sklaven erfolgt; ein
Stück harscher Kritik an verblendeten "Volksvertretern" und
totalitären Herrschaftsformen, in der das Individuum kein
Recht auf irgendeine Freiheit besitzt. Dag wartet mit zwei
gefährlichen Erfindern, beunruhigenden Fehlern im System,
Widerstand und Untergangsszenarien auf.
Abenteuerliches mit belehrendem Einschlag hat im fünften
Kapitel Fev unter dem Titel "Geschichte von den drei Mündern"
zu bieten. Seine Erzählung verbindet märchenhafte
Elemente mit philosophischen, theologischen und praktischen
Fragestellungen. Kernthema ist, wozu man einen Mund habe: zum Essen,
zum Küssen oder zum Reden?
Im sechsten Kapitel fehlt Rar, sein Sessel bleibt leer. Hok
trägt seine schaurige Geschichte von Liebe und
Jenseitsvorstellungen im antiken Rom vor.
In Kapitel Nummer sieben platzt eine schlimme Nachricht, und die
eigentliche Aufgabe des Icherzählers wird erkennbar.
Im Anschluss an Sigismund Krzyżanowskis Text folgen Anmerkungen der
Übersetzerin (S. 207-209), ein Nachwort von Thomas Grob unter
dem Titel "Verschwundene Buchstaben, verschwundener Autor. Die
Entdeckung eines großen Autors der 1920er und 1930er Jahre"
(S. 210-220) sowie ergänzende Ausführungen auf den
Seiten 221-224: "Zum Autor und zu seiner Übersetzerin und zum
Verfasser des Nachwortes", zuguterletzt Anmerkungen zum Buch auf den
Seiten 223 und 224.
Von der mehrfach preisgekrönten Übersetzerin Dorothea
Trottenberg, einer Meisterin der Stilvielfalt, wunderbar ins Deutsche
übertragen, ist "Der Club der Buchstabenmörder" ein
Fest für Liebhaber gediegener Lektüre.
Es ist allerhöchste Zeit, dass Sigismund Krzyżanowski auch im
deutschsprachigen Raum endlich die ihm zustehende Bekanntheit und
Würdigung erlangt!
(kre; 09/2015)
Sigismund
Krzyżanowski: "Der Club der Buchstabenmörder"
(Originaltitel "Klub ubiic bukv")
Aus
dem Russischen von Dorothea Trottenberg.
Dörlemann, 2015. 224 Seiten.
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Sigismund
Krzyżanowski (1887-1950) war einer der maßgebenden Autoren
der russischen Moderne. Geboren in Kiew, zog er 1922 nach
Moskau, wo er
unter prekären Verhältnissen in einem winzigen Zimmer
am Arbat lebte und exzessiv schrieb, ohne zu Sowjetzeiten je ein Buch
veröffentlichen zu können. Erst ab 1989 wurde seine
kunstvolle, fantastische Prosa auch in Russland publiziert.
Weitere Buchtipps:
Jewgeni Petrow, Ilja Ilf: "Kolokolamsk"
Dem Wahnwitz des Sowjetreichs sind Ilf und Petrow mit Satire begegnet.
Ihre Geschichten liegen nun erstmals übersetzt vor.
Der Vorrat an Geschichten und Erzählungen des russischen
Autorenduos Ilja Ilf und Jewgeni Petrow scheint
unerschöpflich. Vor dem Erscheinen ihres
Klassikers "Das goldene Kalb" (1931-1933),
veröffentlichten sie mehrere Sammlungen, in denen immer die
sowjetische Alltagswelt während des ersten
Fünfjahresplans sichtbar wird: "Kolokolamsk und
andere unglaubliche Geschichten", "Eine Lichtgestalt"
und "1001 Tag oder die neue Scheherezade". Groteske Possen aus
der Provinz, bevölkert mit komischen Figuren und verkrachten
Existenzen, betrügerischen Bürokraten und
ganovenhaften Kleinbürgern. Diesem sowjetischen Universum
begegnen "Ilf und Petrow" mit parodierender Ironie, subversivem
Sprachwitz und erbarmungsloser Komik. Ihre Bücher wurden
populärer "Kult". (Die Andere Bibliothek)
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Michail
Ossorgin:
"Eine Straße in Moskau"
Eine Entdeckung: ein Roman aus dem Jahr 1928, erschienen in der
Pariser
Emigration und neu aus dem Russischen übersetzt.
"In einer fremden Stadt entlieh ich den Titel meines ersten
großen Romans bei einer der bemerkenswertesten
Straßen meiner Heimatstadt" - schrieb Michail
Ossorgin, der bereits 1922 auf Lenins Befehl hin die Sowjetunion
verlassen musste und es mit diesem Roman zu internationaler
Berühmtheit brachte.
Die Straße in Moskau heißt "Siwzew Wrazhek". Es ist
eine kleine Straße im Zentrum von Moskau, doch seit der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit großer
literarischer Tradition: Der junge Tolstoj
lebte hier, genauso wie Marina Zwetajewa und Pasternaks "Doktor
Schiwago" spielte hier zum Teil.
Im Frühjahr 1914, am Vorabend des Ersten Weltkriegs, beginnt
"Eine Straße in Moskau" und endet im
Frühlingserwachen des Jahres 1920: Weltkrieg,
Revolution und der Kampf zwischen den "Roten" und "Weißen"
ist auch durch diese Moskauer Straße gegangen, hat ihre
Bewohner zu anderen Menschen gemacht. Wie durch ein Brennglas werden
die epochalen Ereignisse im Mikrokosmos eines Professorenhaushalts um
den Ornithologen Iwan Alexandrowitsch und seine Enkelin "Tanjuscha"
verwundert betrachtet und zu einem Mosaik aus 86 Bildern und Szenen
meisterhaft montiert: ein Film in Prosa, ein dramatisches Personal,
unvergessliche Szenen, realistisch direkt oder symbolisch-parabelhaft
überhöht.
"Eine Straße in Moskau" ist ein Zeitroman und die
literarische Chronik eines wiederentdeckten großen russischen
Stilisten. (Die Andere Bibliothek)
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