Szilárd Borbély: "Die Mittellosen (Ist der Messias schon weg?)"
Was sind Erinnerungen im
Zerrspiegel des Unglücks?
Szilárd Borbély, 1964 in Fehérgyarmat geboren, angesehener Lyriker, hat
2013 seinen ersten und stark autobiografisch geprägten Roman "Die
Mittellosen" veröffentlicht. Und obwohl "Die Mittellosen" in Ungarn
äußerst erfolgreich war, hat sich der Autor am 19. Februar 2014 das
Leben genommen. Zu mitgenommen von dem, was er erzählt hat, unter
posttraumatischen Depressionen leidend (wie die Übersetzerin Heike
Flemming in ihrem Nachwort schildert), war sein einziger Ausweg der
Suizid.
Eine Familie in einem Dorf in Ungarn. Der Junge, der auch der
Ich-Erzähler dieses faszinierenden Romans ist, hat eine größere
Schwester und einen kleinen Bruder, der allerdings nicht alt wird und
stirbt, bevor er noch sprechen kann. Der Vater ist schwerer Alkoholiker
mit besonderem Hang zur Traurigkeit, die Mutter schwer depressiv,
wortkarg und mit starker Tendenz zu schlechter Laune und Brutalität. Der
Erzählton des Jungen ist kurzatmig, trüb, hart und scharf. Lange
Schachtelsätze findet man hier nicht, was die Stimme des Ich-Erzählers
äußerst glaubhaft erscheinen lässt:
"Ich sehe die Sterne und den Rücken meines Vaters, wie er sich nach
vorne beugt. Vom Bett aus sehe ich, wenn er sich würgend krümmt, die
Venus. Der kühle Abendwind trägt den Geruch von Erbrochenem herein."
Im Dorf selbst schwebt der Gestank von Ziellosigkeit, Aussichtslosigkeit
und einer Vergangenheit im Krieg, welche die noch lebenden Bewohner
irgendwie vereint, aber auch nur, weil es die einfachste Lösung ist. Als
damals der jüdische Ladenbesitzer ins Konzentrationslager kam, hat man
dessen Besitz einfach untereinander aufgeteilt. Allerdings, ohne sich
dabei anzusehen. Und dieses Wegschauen bestimmt eigentlich alles, was
hier vor sich geht.
"Im Dorf gibt es keine Juden mehr. Das heißt, es gibt sie, aber man
spricht nicht darüber. Man tut so, als gäbe es sie nicht. Es gibt
einen Juden, aber auch der ist keiner mehr. Mózsi kam fünfundvierzig
vom Arbeitsdienst zurück und wartete auf seine Familie ... Jeden Tag
wartete er auf sie. Er setzte sich vor das Tor und beobachtete die
Straße, ob sie kommen. Sie hätten von der Rampe her einbiegen müssen,
dort waren sie aus dem Dorf gebracht worden ..."
Man kann sich dem Sog der Erzählung des Jungen gar nicht mehr entziehen,
egal wie grausam, naiv oder erschreckend seine Erzählung auch sein mag.
Er erzählt von einer Kindheit, die von Rassismus, Dreck, Ekel und dem
Töten von Kleintier geprägt ist. Der Junge hasst es, die Tiere zu töten
und stellt sich dabei vor, wie es wäre, wenn er oder andere Mitglieder
seiner Familie tot wären. Dass er für sein ständiges Bettnässen immer
wieder Prügel einstecken muss, ist selbstredend.
"Und sie beeilen sich dabei nicht, machen es ganz sachte. Weil die
Bauern alles gemächlich machen. Gleichgültig. So schlagen sie auch die
schwarze Katze tot. Langsam, mit gelangweiltem Gesicht. Lustlos wie
bei der Arbeit. Sie müssen es. Weil sie keine Freude mögen ... Sie
wollen, dass das schlafende Kind nicht aufwacht, aber die Qual des
Tieres hört. Damit die Todesangst des Tieres in das Kind übergeht."
All das ist nicht chronologisch erzählt, was es immer wieder schwer
macht, sich zu orientieren. Auch scheint immer stärker durch, dass der
Erzähler mittlerweile mit der Erfahrung eines Erwachsenen zurückblickt
und auch nicht mehr im Dorf wohnt, weil er Dinge weiß, die er im Moment
der Erzählung natürlich nicht hätte wissen können. Das erlaubt eine
Vielschichtigkeit des Ausdrucks, die hier unfassbar trifft.
Einzig die Vorliebe für Primzahlen
hilft dem Ich-Erzähler immer wieder über den Ekel und die noch nicht
erkannte Traurigkeit des Daseins hinweg, die hier alles überschattet und
ihren Schatten sicher über die Zukunft des Erzählers legt, der viele
Jahre später unter der Last des Erlebten den Freitod wählen wird.
"Die Mittellosen" ist, um es auf den Punkt zu bringen, eine Sensation,
der man sich, wie bereits erwähnt, nach nur wenigen Sätzen nicht mehr
verweigern kann, egal wie hart es Szilárd Borbély sich und dem Leser auf
den nächsten fast 306 Seiten (der Rest ist wirklich informativer Anhang)
macht. Ein Roman, der aus der Masse der Veröffentlichungen herausragt
und definitiv eine der ganz großen Entdeckungen ist. Die Übersetzung ist
kongenial überzeugend, so sehr, dass man kaum glauben will, dass der
Text nicht in deutscher Sprache verfasst wurde.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 01/2015)
Szilárd
Borbély: "Die Mittellosen (Ist der Messias schon weg?)"
(Originaltitel "Nincstelenek")
Aus dem Ungarischen von Heike Flemming und Laszlo
Kornitzer.
Suhrkamp, 2014. 350 Seiten.
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Einige weitere Bücher
ungarischer Autoren:
Szilárd Rubin: "Der Eisengel"
Budapest, Mitte der 1960er-Jahre. Ein Schriftsteller stößt auf die
seltsam anziehende Fotografie einer jungen Frau. Ihre zarte Schönheit
verbirgt Entsetzliches: Piroska, die "Vampirin von Törökszentmiklós",
wurde zehn Jahre zuvor für den Mord
an fünf Mädchen hingerichtet. Der bizarre Fall hatte zunächst hohe
Wellen geschlagen, wurde aber überraschend schnell für erledigt erklärt.
Gebannt geht der Erzähler der Sache nach: Er reist an den Ort des
Geschehens, stöbert Zeugen auf, stößt auf widersprüchliche Aussagen.
Fest steht nur, dass Piroska sich als Prostituierte bei den nahe
stationierten, unantastbaren Sowjetsoldaten verdingt hat. Aber dann
erfährt er von einem Militärgürtel, der bei den Leichen lag - und blickt
in die dunkle Seele der Stadt, in ein Gestrüpp von Angst und Lüge, Schweigen
und Schuld.
Über mehrere Jahrzehnte arbeitete Szilárd Rubin an diesem posthum
veröffentlichten Roman, der um ein bis heute in Ungarn nicht
aufgeklärtes Verbrechen kreist. Ein Meisterstück zwischen Fiktion und
Realität in der Art von
Truman Capotes "Kaltblütig", ein fesselnder Kriminalfall und
zugleich ein brillanter, dichter Roman. Rubin ist hier so konsequent,
leidenschaftlich und radikal wie selten zuvor. (Rowohlt Berlin)
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Péter Esterházy: "Die
Mantel-und-Degen-Version"
Geheimagenten und Doppelspione, Kabale, Liebe und Verrat im 17.
Jahrhundert - Péter Esterházys fulminanter Roman.
Was geschieht, wenn Péter Esterházy sich vornimmt, eine einfache
Geschichte zu erzählen? Er schreibt einen historischen Roman: Kutschen
rauschen, von Spionen verfolgt, durch ein Mitteleuropa avant la lettre -
wir befinden uns in den Jahren der Rückeroberung Budas zur Zeit der
Türkenherrschaft -, kein noch so geheimes Treffen bleibt unbespitzelt.
Denn sowohl Pál Nyáry, der über die Geschicke von Ungarn verhandeln
soll, als auch sein Vertrauter, Hauptmann Mihály Bárány, haben ihre
Herzen leichtsinnigerweise der Liebe geöffnet ...
Natürlich pfeift Esterházy auf das historische Genre und hält sich an
die Gegenwart, natürlich nutzt er jede sich bietende Gelegenheit für
Abschweifungen voll wunderbarer Einfälle. (Hanser Berlin) zur
Rezension ...
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Miklós
Bánffy: "In Stücke gerissen"
Als im Juli 1914 Zeitungen die Mobilisierung der Habsburgermonarchie
gegen Serbien verkünden, kehrt der Idealist Bálint Abády nach
Siebenbürgen zurück. Er kümmert sich um seine Genossenschaften, bringt
die Korrespondenz in Ordnung und geht noch einmal durch Herrenhaus und
Schloss. Den Flügel, den er mit der Liebe seines Lebens bewohnen wollte,
meidet er. Wenig später, im Feldgrau des Regiments, lässt sich Bálint
von einem Wagen zu seinem Regiment der Vilmos-Husaren bringen.
Zerbrochene Pläne, vernichtete Träume, verblichene Erinnerungen: In
Stücke gerissen werden in Miklós Bánffys Trilogie der Traum vom Glück
zweier Menschen und die lange als unumstößlich geltende Welt von
gestern. (Zsolnay)
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László Krasznahorkai: "Die
Welt voran"
Dem Zauber des Beginns ist immer schon der Schrecken des Endes
eingeschrieben. Von den europäischen Schriftstellern seiner Generation
hat keiner dies so deutlich erfahren wie der ungarische Autor und
europäische Weltbürger László Krasznahorkai. In seinem Werk wird eine so
betörend luzide wie düstere Karte unserer Gegenwart gezeichnet. Das
leuchtende Dunkel Becketts,
in dem er sich mit Kafkas
Kompass bewegt, steht auch hinter den Erzählungen seines Buches "Die
Welt voran", das durch die Musikalität seiner Sprache und die
Eindringlichkeit seiner Bilder zur Widerspiegelung einer beinah
geretteten Welt wird. (S. Fischer)
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Ernő
Szép: "Zerbrochene Welt. Drei Wochen 1944"
"Wahrscheinlich ertrage ich all das, was ich täglich sehen, hören und
leiden muss, nur deshalb, weil ich gar nicht richtig glauben kann, was
hier vor sich geht. Ich glaube es nicht, weil Menschen solche Dinge
doch eigentlich nicht fertigbringen."
Am Morgen des 20. Oktober 1944 muss der sechzigjährige Erno Szép den
Marsch in ein Arbeitslager nahe Budapest
antreten. Seine Beobachtungen und Erlebnisse in den folgenden 19 Tagen
hält er in dem vordergründig leichten, eleganten und damit umso
verstörenderen Ton des Feuilletonisten fest. Ungläubigkeit spricht aus
seinen Zeilen, mit ironischer Distanz versucht er den alltäglichen
Demütigungen zu begegnen, um seine menschliche Würde zu bewahren.
Mit einem Nachwort von Prof. Paul Lendvai und Anmerkungen von Ernö
Zeltner. (dtv)
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