Olivier Adam: "An den Rändern der Welt"
"Ich parkte auf dem
Gehsteig gegenüber ..."
" ... und warf einen Blick in den Rückspiegel". Mit diesen Worten
beginnt dieser Roman von Olivier Adam. Sie schildern eine Alltagsszene,
klar und arglos, ihr programmatisches Potenzial wie beiläufig gehütet.
Aber es ist bald offensichtlich: Der, der am Rande der Straße stehen
bleibt, ist auch jener, der immer an der Peripherie gelebt hat und wie
im Rückspiegel auf seine Vergangenheit blickt. Paul. Es geht um Paul,
den Schriftsteller, den die Trennung von seiner Frau in eine Lebenskrise
gestürzt hat und der nun in seinem Heimatort seinen Wurzeln nachgeht.
Was ist aus seiner Welt der Kindheit
und
Jugend geworden? Den Orten, den Menschen, den Freunden? Wo und wer
war er damals, und wer ist er heute?
Die Ränder der Welt, die der französische Schriftsteller Olivier Adam in
seinem Roman auslotet, sind allumfassend, physisch und psychisch,
konkret und allgemein. Es geht um das Leben an der Peripherie von Paris,
dem Banlieue, an sozialen Rändern, um sozialen Aufstieg und Abstieg, um
Familiengeheimnisse und Lebenskrisen. Was ist, wenn die Peripherie das
Zentrum des Landes geworden ist, das Herz der Gesellschaft? Trotz seines
Erfolges und Umzugs nach
Paris, bleibt der Protagonist von seinem Herkunftsort geprägt.
Zuerst versucht er am natürlichen Rand des Landes, in der Bretagne, am
Meer, zu sich selbst zu finden. Aber erst als er unfreiwillig in seinen
Herkunftsort zurück muss, um seinen alten Eltern zu helfen, setzt er
sich mit den Wurzeln seiner selbst auseinander. Adam gelingt eine
einprägsame Skizze der Banlieues, diesen Vororten von Paris, in denen
die sogenannten kleinen Leute leben. Er erzählt von ihren Hoffnungen,
Chancen, den Niederlagen und dem unerbittlichen Lauf der Dinge. Vom
immer düster werdenden Arbeitsmarkt, prekären Arbeitsverhältnissen,
Konflikten, Depressionen, die sich unaufhörlich ausbreiten, und
vom Überleben trotz allem. Aber auch vom Alltagsrassismus, der
sich nicht in hasserfüllten Reden artikuliert, sondern in
Selbstverständlichkeiten und als heimliches Einverständnis, das sich
über vielsagende Blicke und Anspielungen vermittelt.
Olivier Adam, Jahrgang 1974, ist ein äußerst produktiver Schriftsteller.
Seit er 1999 mit seinem Debütroman "Keine Sorge, mir geht's gut" Furore
machte, veröffentlichte er beinahe im Jahresrhythmus neue Bücher. Das
mag erklären, warum die Protagonisten der "Ränder der Welt" die selben
sind wie in "Gegenwinde",
seinem vorherigen, anno 2011 auf Deutsch erschienenen Roman. Nicht nur
die Figuren sind identisch, sogar ihre Namen. Aber die neue Erzählung
ist unabhängig, ohne Bezug auf die vorangegangene. Ob das sinnvoll ist,
künstlerisch und schriftstellerisch? Schließlich sind es keine
Fortsetzungsromane. Oder ist es die Kehrseite eines erfolgreichen
Literaturschaffenden? Immer das Gleiche erzählen, um die Produktivität
am Laufen zu halten? Nötig hätte er es nicht, denn auch dieser Roman
kann sehr gut für sich alleine stehen. Gut erzählt, geistreich und
intensiv, mit Einblicken in das Frankreich der Peripherie.
Die Peripherie als Zentrum. Die dazu gehörige Sprache ist unprätentiös,
die Handlung schlicht, der Rahmen schmucklos. Aber das Ganze hat einen
Zauber, der die Lektüre spannend und anregend macht. Seite um Seite
können wir mitverfolgen, wie sich die Hauptfigur als Mann der
Peripherie erkennt, der am Gehsteig parkt. Zuschauen und fliehen
erscheinen ihm als einzige Möglichkeit, um sich mit sich zu versöhnen
und seinen wirklichen Platz in dieser Welt zu finden. Die Geschichte
endet, wie sie angefangen hat, der Logenplatz für das Stück namens Leben
ist reserviert. Das Ticket für Japan ist in der Jackentasche. "Es
war höchste Zeit zu gehen." Dazwischen und zwischen den
Buchdeckeln ein Frankreich, das nicht in den Tourismusbroschüren steht,
aber das uns sehr bekannt vorkommt.
(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 04/2015)
Olivier Adam: "An den Rändern der Welt"
(Originaltitel "Les Lisières")
Aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn.
Klett-Cotta, 2015. 424 Seiten.
Buch
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