Swetlana Alexijewitsch: "Zinkjungen"
Afghanistan und die Folgen
Opfer allenthalben - und
das große Schweigen
Von 1979 bis 1989 kämpfte insgesamt rund eine Million junger Männer aus
der Sowjetunion in Afghanistan; jeder zwanzigste kam nicht zurück, die
anderen waren größtenteils traumatisiert - eine verlorene Generation.
Nicht nur die Soldaten, sondern auch ihre Mütter, Frauen und Freundinnen
mussten mit dem Entsetzen leben, das "Afghanistan" beinhaltete.
Erschwert wurde ihnen die Auseinandersetzung mit ihren Traumata, ihrer
Trauer durch das Nichtverstehen ihrer Mitmenschen, die den Krieg und den
Verlust nicht selbst erlebt hatten. Sie zogen sich ins Schweigen zurück.
Es ist Swetlana Alexijewitsch, eine ukrainisch-weißrussische Autorin,
die diesen "überlebenden Opfern" eine Stimme gibt: In "Zinkjungen" lässt
sie Betroffene zu Wort kommen, Soldaten aller Dienstgrade,
Krankenschwestern, Ärztinnen, Mütter, Witwen. Alexijewitsch spricht mit
ihnen, zeichnet ihre Erinnerungen, ihre Anklagen, Entschuldigungen,
Fragen an die politische Führung und die Gesellschaft auf, ihre
Verzweiflung, den ganzen Schmerz und die Hilflosigkeit.
Doch diese erweiterte Neuauflage beschränkt sich nicht auf die Berichte
der unmittelbar Betroffenen, sondern sie umfasst auch eine Sammlung von
Material aus einem gerichtlichen Zivilprozess: Anklageschriften,
Mitschriften zum Prozess, Reaktionen der Beteiligten, Leserbriefe an
Zeitungen und andere Zuschriften und Reaktionen rund um diesen in Minsk
angestrengten Prozess, dem Alexijewitsch ausgesetzt war infolge der
ursprünglichen, in vielen, auch westlichen Ländern erschienenen Ausgabe
von "Zinkjungen".
Längst ist der sowjetisch-afghanische Krieg in eine Art
Dornröschenschlaf des Vergessens geraten. Zwischenzeitlich herrschten
die Taliban, dann traten die USA und ihre Verbündeten auf den Plan, und
mittlerweile ist Afghanistan aus dem Fokus der öffentlichen Wahrnehmung
weitgehend verschwunden.
Warum mit der erweiterten Neuauflage eines solchen Antikriegsbuchs
schlafende Hunde wecken?, mag man sich fragen, doch bereits zu Beginn
der Lektüre begreift der Leser den Sinn des Buchs: Hier geht es nicht
darum, Urteile zu fällen, es geht auch nicht darum, die Geschichte
festzuhalten, es geht um das individuelle Schicksal, um die "Afghanen"
genannten Kriegsteilnehmer, zunächst als Helden gefeiert, dann geächtet,
als sie verstümmelt an Leib und Seele zurückkehren. Diese Menschen sowie
ihre unmittelbaren Angehörigen erzählen offen, bisweilen gegen die
fragende Autorin, damit jedoch gegen ihre eigenen Erinnerungen
aufbegehrend, von Unsäglichem: dem Mord an Frauen, Greisen und Kindern,
ebenso natürlich von heimtückischen Überfällen auf ihre Kameraden und
sie selbst, davon, wie Einzelne sich am Krieg bereichern, als ob das
Töten sie nichts anginge; davon, wie andere, zum Teil zur
Unkenntlichkeit verstümmelt, in Zinksärge eingeschweißt - daher der Name
"Zinkjungen" -, zu ihren Familien zurückkehren, vom Leben und Überleben
in diesem Krieg, der doch eigentlich den afghanischen "Brüdern" eine
gerechte Gesellschaftsordnung bringen sollte, wie man den jungen Leuten
weismachte.
Eindringlicher kann man die Sinnlosigkeit des Kriegs als solchem sicher
nicht darstellen, es fehlt natürlich die afghanische Seite, doch viele
derer, die zu Wort kommen, versetzen sich in genau diese Seite hinein,
fragen sich: Wer hat angefangen? Warum spuckt die mühsam gerettete alte
Afghanin das medizinische Personal an? Ihr ganzes Dorf wurde zuvor
ausgerottet. Denn die Dorfbewohner haben ... aber zuvor ...
Und hier, anhand der bewussten Aussagen Betroffener, zeigt sich, dass es
für die Ausführenden und Opfer im Nachhinein keine nachvollziehbare
Ursache für den Krieg gibt, sondern nur ein Hin- und Herschieben der
"Schuld" wie bei Kindern: Der hat angefangen! - Nein, der! -
Gleichzeitig glimmt jedoch auch in Alexijewitschs Gesprächspartnern von
selbst das Verständnis auf: So funktioniert das nicht! Und mitten in
diese Überlegungen hinein platzt der von den ewiggestrigen Kräften
initiierte Prozess gegen die Autorin, mit traurigen Argumenten: Die
Autorin habe Dollars damit verdient und zudem die Ehre der betroffenen
Personen verletzt. Diese Erweiterung des ursprünglichen Buches zeigt,
wie das totalitäre System einfache Menschen und ihre Gefühle
instrumentalisiert, um eine Autorin mundtot zu machen, die ihnen eine
Stimme gibt.
Auch im wieder einmal so eingriffsfreudigen Westen ist dies ein sehr
wichtiges Buch über die Absurdität, vor allem aber die langfristigen
Folgen eines nicht zu gewinnenden Krieges. Es zeigt auch, wie
verzweifelt politische Machthaber in Rechtsfragen eingreifen. Es
entlarvt. Es tut weh. Es ist Dokumentation im besten Sinne.
(Regina Károlyi; 03/2014)
Swetlana Alexijewitsch: "Zinkjungen.
Afghanistan und die Folgen"
(Originaltitel "Zinkowyje maltschiki")
Aus dem Russischen von Ingeborg Kolinko und Ganna-Maria Braungardt.
Gebundene Ausgabe:
Hanser Berlin, 2014. 317 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Suhrkamp, 2016.
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Swetlana Alexijewitsch, 1948
in der Ukraine geboren und in Weißrussland aufgewachsen, lebt heute in
Minsk. Ihre Werke, in ihrer Heimat verboten, wurden in mehr als 30
Sprachen übersetzt. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, 1998 mit dem
"Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung" und 2013 mit dem
"Friedenspreis des Deutschen Buchhandels". Im Jahr 2015 erhielt sie den
Nobelpreis für Literatur.
Weitere Bücher der Autorin (Auswahl):
"Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus"
Gut zwanzig Jahre sind vergangen seit dem Zusammenbruch des
Sowjetimperiums, die Russen entdeckten die Welt, und die Welt entdeckte
die Russen. Inzwischen aber gilt Stalin wieder als großer Staatsmann,
die sozialistische Vergangenheit wird immer öfter, vor allem von jungen
Menschen, nostalgisch verklärt.
Russland, so Swetlana Alexijewitsch, lebt in einer Zeit des
"Second-hand", der gebrauchten Ideen und Worte. Die Reporterin befragt
Menschen, die sich von der Geschichte überrollt, gedemütigt, betrogen
fühlen. Sie spricht mit Frauen, die in der Roten Armee gekämpft haben,
mit Soldaten, Gulag-Häftlingen, Stalinisten. "Historiker sehen nur die
Fakten, die Gefühle bleiben draußen ..., ich aber sehe die Welt mit den
Augen der Menschforscherin."
Wer das Russland von heute verstehen will, muss dieses Buch lesen.
Swetlana Alexijewitsch formt aus den erschütternden Erfahrungen von
Menschen, die zwischen Neuanfang und Nostalgie schwanken, den
Lebensroman einer noch nicht vergangenen Epoche. (Suhrkamp)
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"Tschernobyl. Eine Chronik
der Zukunft"
Das preisgekrönte Buch der Literaturnobelpreisträgerin.
Swetlana Alexijewitsch wurde bekannt durch die Dokumentation
menschlicher Schicksale und gilt als wichtigste Zeitzeugin der
postsowjetischen Gesellschaft. Über viele Jahre hat sie mit Menschen
gesprochen, für die die Katastrophe von Tschernobyl zum zentralen
Ereignis ihres Lebens wurde. Entstanden sind eindringliche
psychologische Porträts, die ungeheure Nähe zu den Betroffenen aufbauen
und von höchster Sensibilität und journalistischer Perfektion zeugen.
Das Erlebnis der Tschernobyl-Katastrophe ist, so Swetlana Alexijewitsch,
etwas, "wofür wir noch kein System von Vorstellungen, noch keine
Analogien oder Erfahrungen haben, ... wofür nicht mal unser ganzes
inneres Instrumentarium ausreicht." Das hat sich auch heute noch nicht
geändert. (Piper)
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"Der Krieg hat kein
weibliches Gesicht"
Die weibliche Geschichte des Krieges.
"Ganze Züge voller Frauen gingen an die Front", erinnert sich eine
ehemalige Rotarmistin im Gespräch mit Swetlana Alexijewitsch. "Es waren
nicht mehr genug Männer da. Sie waren gefallen. Lagen unter der Erde
oder waren in Gefangenschaft." Die Frauen waren "bereit, für die Heimat
zu sterben. So waren wir erzogen." Sie waren nicht nur Ärztinnen und
Krankenschwestern, sondern auch Fliegerinnen, weibliche Scharfschützen
und Panzersoldaten. Und sie waren jung: "Ich war noch so klein, als ich
an die Front ging", erzählt eine ehemalige Scharfschützin, "dass ich im
Krieg noch gewachsen bin." Und sie waren für ihr Leben traumatisiert.
Sie erzählen der Autorin vom Tod
und vom Töten, von Blut,
Dreck und Läusen,
von Kriegsverbrechen, von Verwundungen, Schmerzen, Hunger und miserabler
Ausrüstung - und wie man sie vergessen hat, als es nach dem Krieg darum
ging, die "Helden" zu feiern.
Das erschütternde Dokument einer ausgeblendeten Seite des Zweiten
Weltkriegs: Rund eine Million Frauen haben in der Roten Armee gekämpft.
Swetlana Alexijewitsch lässt sie zu Wort kommen. (Suhrkamp)
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"Die letzten Zeugen.
Kinder im Zweiten Weltkrieg"
Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sprechen Männer und
Frauen, die beim Einmarsch der Deutschen in Weißrussland noch Kinder
waren, zum ersten Mal darüber, woran sie sich erinnern. Ihre
erschütternden Berichte vom Krieg machen "Die letzten Zeugen" zu einem
der eindringlichsten Antikriegsbücher überhaupt. Oft sind diese
Erinnerungen nur Bruchstücke, und doch haben diese Kinder Dinge gesehen
und erlitten, die niemand, am allerwenigsten ein Kind, sehen und
erleiden dürfte. Alexijewitsch erweist sich einmal mehr als begnadete
Zuhörerin und große Chronistin, die es versteht, den Erfahrungen von
Menschen in Extremsituationen, im Ausnahmezustand einen einzigartigen
Resonanzraum zu verschaffentit! (Hanser)
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Weitere Buchtipps:
Tatjana Kuschtewskaja: "Zu Gast bei Genies. Neue kulinarische
Streifzüge durch die russische Literatur"
Nach ihrem Erfolgstitel "Die Poesie der russischen Küche" (2003) begibt
sich Tatjana Kuschtewskaja erneut auf kulinarische Streifzüge durch die
russische Literatur. Sie steht bei Alexander
Puschkin am Herd, schaut in die Töpfe von Maxim Gorkij, nimmt
Platz am Tisch von Vladimir
Nabokov. Denn die russischen Schriftsteller sind große Meister im
"Anrichten" von Speisen. Wie und was sie ihre Helden essen lassen, gibt
stets auch Aufschluss über ihr Wesen, Gemütslage oder Lebenseinstellung.
Tatjana Kuschtewskaja präsentiert Speisen, an denen die russischen
Genies Gefallen fanden und deren Rezepte sie in alten Kochbüchern
aufspürte: Von Suppen und Vorspeisen über Fleisch- und Fischgerichte bis
zu Süßspeisen und Getränken. Gewürzt wird das Ganze mit Episoden aus dem
Leben ihrer Helden und literarisch-kulinarischen Zitaten.
Nun bitte zu Tisch. Erheben wir das Glas auf alle Gourmets und alle
Freunde der russischen Literatur. Prijatnogo appetita! - guten Appetit!
(Grupello)
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Gaito Gasdanow: "Ein Abend
bei Claire"
Die Geschichte einer großen Liebe und eine unvergessliche Schilderung
Russlands zu Beginn des 20. Jahrhunderts: 1917 begegnet der verträumte
Kolja im vorrevolutionären St.
Petersburg der bezaubernden Claire und verliebt sich in sie. Aber
das Fantasiebild dieser Frau ist für ihn so viel wirklicher als die
Realität, dass er ihr nicht zu folgen wagt, als die verheiratete Claire
ihn eines Abends zu sich lädt. Nach der langen, sinnlosen Grausamkeit
des Bürgerkriegs will er nun, Jahre später, Claire im Pariser Exil
wiederfinden. Mit den Mitteln des modernen Erzählens erweckt Gaito
Gasdanow die vergangene Welt seiner Jugend wieder zum Leben. Ein
Abgesang auf die romantische Liebe, der bis heute ergreift und berührt.
(Hanser)
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