Christian Rätsch: "Abgründige Weihnachten"

Die wahre Geschichte eines ganz und gar unheiligen Festes


Weihnachtsmann = Wotan = Fliegenpilz?
Ursachen, Wirkungen und Nebenwirkungen eines bestenfalls eklektizistischen Ansatzes


"Die erste Vereinigung oder Symbiose von Fliegenpilz und menschlichem Gehirn geschah vielleicht schon in der Altsteinzeit." (S. 21)

Man kennt den langhaarigen Dr. Christian Rätsch als aufgeschlossenen Erforscher schamanischer Kulturen und Ethnopharmakologen mit dem besonderen Spezialgebiet "psychoaktive Pflanzen", der sich schon mit zahlreichen Publikationen in den Seelen einer treuen Anhängerschaft verwurzelt hat und auch Seminare abhält. Wenig überraschend hat er bereits mehrfach über Pilze geschrieben, z.B. in "Pilze und Menschen" oder in "Pilze der Götter". Diesmal jedoch widmet sich Christian Rätsch einzig und allein dem Fliegenpilz!
Dies geschieht in launiger, einmal belustigender, dann wieder eher befremdlicher Weise. Launig, wenn man aufgrund der mitunter recht abrupt getroffenen Schlussfolgerungen und verheißungsvollen Mutmaßungen schmunzeln kann, befremdlich, wenn die Exkurse gar zu weitschweifig ausfallen und vor lauter allgemeinbildungstauglicher Welterklärung der rote Faden abhanden kommt.

"Geboren wurde das, was heute der Weihnachtsmann ist, aus einem berauschenden Ritual archaischer Schamanen, die einem Fliegenpilzkult frönten. Übrigens: Der Fliegenpilz ist nicht tödlich giftig, er berauscht und kann glücklich machen. Der rot-weiß gekleidete, Geschenke verteilende Weihnachtsmann ist eigentlich ein Fliegenpilz, genauer gesagt ein antropomorpher Fliegenpilz, ein gedanklich zu einer Menschengestalt transformierter Pilz. Warum? Das erfahren Sie in diesem Buch." (S. 12)

Ungewöhnlich ist, dass dem Buch ein Vortrag zugrundeliegt, was naturgemäß gewisse Nebenwirkungen (z.B. kurze, einfache Sätze, weitgehende inhaltliche Schlichtheit, gelegentlich sehr vereinfachende Erklärungsansätze auf Schulniveau) zeitigt; dies, obwohl der Text laut "Danksagung" des Autors "aufgemotzt" worden ist. Wie auch immer, Reste dieser Entstehungsgeschichte entdeckt man beispielsweise in Form von Fragestellungen und Aufforderungen, die wohl für eine geneigte Zuhörerschaft gedacht waren und auch im Druckwerk erhalten geblieben sind. Anzumerken ist freilich, dass der Autor nicht verrät, welchen Wissensstand und welche Wissbegierde die angesprochene Zielgruppe konkret aufzuweisen hatte.

Christian Rätsch leitet das seinem Vater gewidmete Buch mit der für Rauschmittel prinzipiell obligaten Warnung samt Verantwortlichkeitsabwehr ein, wie es auch bei einem Büchlein über den Fliegenpilz aufgrund geltender Gesetze anscheinend sein muss. Über mögliche unerwünschte Wirkungen und Nebenwirkungen aufzuklären, wie auch über mögliche erwünschte, das ist wohl Stoßrichtung dieses schmalen Bändchens, das mit zahlreichen kuriosen Fotografien bebildert ist.

Der Buchumschlag zeigt das halbe Gesicht eines bärtigen Mannes mit runder Brille, dem dritten Auge (?) und einer anscheinend weihnachtsmanntypischen Mütze; der Mann starrt mit dramatisch erweiterter Pupille auf zwei inmitten Kleeblättern und Gras prangende Fliegenpilze; überdies erkennt man ein halbes Rentier, ein alleinstehendes menschliches Auge sowie einen in Dunkelheit versunkenen Puppenkopf. Diese Musterung setzt sich zu Beginn im Buchinneren fort, das ein kaleidoskopartiges Gesamtbild für den Betrachter bereithält.
Doch es geht in "Abgründige Weihnachten" nicht allein um die Ursprünge des Festes und seine Ausprägungen im Lauf der menschlichen Kulturgeschichte, ebenso werden andere Bräuche und Weltbilder in manchmal etwas gezwungen wirkenden Bezug zum Fliegenpilz gesetzt. Übrigens verschmähen auch Tiere (wie z.B. Fliegen und Rentiere) den Pilz keineswegs.

Vergleicht man "Abgründige Weihnachten" mit anderen Publikationen von Christian Rätsch, ist man somit zunächst angesichts des Aufbaus und des Inhalts doch überrascht, weil sich dieses Buch hinsichtlich des Anspruchs deutlich von ihnen unterscheidet. Stellenweise derart seicht und geradezu flapsig kulturenüberspannend, dennoch gewiss fundiert, quer durch den Gemüse- (oder vielmehr Fliegenpilz-)garten zu fabulieren, ist bestimmt eine Leistung ganz eigener Art. Dass sich der Autor dabei immer wieder auf das Christentum/die katholische Kirche einschießt, ist nicht gerade weihnachtlich zu nennen. Hat der Autor vielleicht mit dem Christentum ein Hühnchen (oder Pilzchen?) zu rupfen, obwohl ihm ein christliches Thema als Aufhänger/Titellieferant gedient hat und sein Buch wohl nicht zufällig in der Vorweihnachtszeit erschienen ist?
"Für viele Tzotzilen ist das Kreuz ein Zeichen des Lebens, da Mais ihr Grundnahrungsmittel ist - und es ist ein Fruchtbarkeitssymbol. Also das Gegenteil eines christlichen Kreuzes." (S. 132)
"Das nordische Wintersonnenwendritual, das Julfest, ist der Ursprung unserer heutigen Weihnachtsfeier - und nicht die Geburt des kleinen Jesuskindes. Ursprünglich hieß es in der christlichen Kirche, dass der Geburtstag von Jesus Christus im Wonnemonat Mai gelegen habe. Erst seit dem 6. Jahrhundert behauptet die Kirche, dass Jesus am 24. Dezember, an Heiligabend, geboren worden sei. Damit wollte man dem ursprünglich heidnischen Fest einen christlichen Touch geben. Mit dieser Lüge versuchte die Kirche den von ihr gehassten Wotan aus dem Bewusstsein der Menschen zu verdrängen." (S. 115)
Zumindest ein bisschen weniger missmutig klingt folgende Beobachtung: "Der Hut des reifen Fliegenpilzes erinnert nicht nur an eine aufsehenerregende rote Kappe mit weißen Punkten von Papst Benedikt XVI., sondern natürlich auch an die verschneite rote Mütze des Weihnachtsmanns." (S. 141)

Die Begeisterung für den Fliegenpilz kennt offenkundig keine Grenzen, zu verlockend ist es, das hübsche Schwammerl als Mittelpunkt der Menschenwelt darzustellen. Im anhaltenden Überschwang ergeben sich bisweilen Formulierungen wie z.B. diese: "Eine Fliege ist ein Lebewesen, das fliegt - ganz klar. Man fliegt auf etwas, man fährt drauf ab. Und im Fliegen steckt auch eine starke, archaische Faszination. Das Fliegen verbindet Himmel und Erde! Genau wie die Fliege und genau wie der Fliegenpilz!" (S. 72)

Dr. Rätsch bietet also bunt gemischte Auszüge aus seinem unbestritten ebenso umfassenden wie außergewöhnlichen Wissen, aber für den Leser entwickelt sich der Slalom zwischen all den Zwergen und Wichteln, Rentieren und Schamanen nicht zur ebenfalls thematisierten Wilden Jagd, sondern bisweilen zur Geduldprobe. Manchmal wird aus unerfindlichen Gründen recht weit ausgeholt, um dann - wenig überraschend - erst recht wieder beim Fliegenpilz zu landen.
So huscht man als Leser durch Christian Rätschs aufgefächerte vermischte Gedanken über zum Beispiel: Schamanen und deren Praktiken, zahlreiche Götter, die Himmelsscheibe von Nebra, Perchtenläufe, Fliegenpilzrezepte, Mythen, Legenden und Geschichten zum Thema, Urintherapie, Räucherwerk, Kultgegenstände, Glückssymbole und so weiter und so fort. Was für ein Füllhorn an Fliegenpilzlichem!

Resümee:
Ein handliches Büchlein in erster Linie für Fliegenpilzbegeisterte und nachrangig für allgemein an Rauschkultur Interessierte mit Wagemut und Humor, das dem Leser einiges sowohl an Einfühlungsvermögen (aufgrund der Abgehobenheit) wie auch an Nachsicht (aufgrund des Stils) abverlangt.
Und man erfährt auch noch, wie der Autor lebt: "In der Weihnachtszeit räuchere ich mehr als sonst. Ich genieße es, Musik zu hören, gehe in die Oper und schmücke meinen Weihnachtsbaum mit schamanischen Symbolen - besondern gerne mit Fliegenpilzen in allen nur erdenklichen Varianten. Besonderen Spaß habe ich alle Jahre wieder, wenn ich die Wilde Jagd unter meinem Weihnachtsbaum aufstelle - aus Plastikfiguren aus dem Spielzeugladen (...) Ich nutze die Raunächte, um mich mit meinen Ahnen zu verbinden und um mit meinen kulturellen Wurzeln in engen Kontakt zu kommen, berausche mich an Fliegenpilzen und anderen Entheogenen, widme mich dem Bleigießen zum Orakeln und erfreue mich in der Nacht zu Neujahr am funkelnden, sprühenden, farbenprächtigen Feuerwerk." (S. 139/140)

Na dann, frohes Fest!

(Felix Grabuschnig; 11/2014)


Christian Rätsch: "Abgründige Weihnachten.
Die wahre Geschichte eines ganz und gar unheiligen Festes"

Riemann, 2014. 160 Seiten.
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