Jean-Philippe Toussaint: "Nackt"
Ein ambitiöses Motto hat Jean-Philippe Toussaint seinem Roman vorangestellt, die Forderung Dantes, von ihr, der Geliebten, in einer Weise zu sprechen, wie noch von keiner zuvor gesprochen worden ist. In dem Buch heißt sie Marie, ist berühmte Modeschöpferin, reiche Kosmopolitin ("Nackt" spielt zu etwa gleichen Teilen in Tokyo, in Paris und auf Elba) und auch die große Geliebte des Ich-Erzählers, allerdings befinden sich die beiden im Zustand der Trennung. Einvernehmlich oder nicht, des Erzählers Sehnsucht nach Marie ist groß, er verwandelt diese jedoch nicht in Taten oder zumindest Zukunftsvorstellungen, ruft vielmehr in der Erinnerung immer dieselben Glücksmomente ab, nicht nur gemeinsame, auch solche, deren Augenzeuge er lediglich geworden ist, Augenblicke, in denen Maries innerster Kern zum Vorschein kam, ihre ozeanische Disposition, "diese wunderbare Fähigkeit, sich von einem Moment zum anderen eins zu machen mit der Welt, eine Harmonie zwischen sich und dem Universum herzustellen, in einer völligen Auflösung ihres eigenen Bewusstseins".
In bewusster Auflösung begriffen scheint der Erzähler, der keinerlei Anstalten macht, aktiv auf Marie zuzugehen, vielmehr ganz - auch als sich an den Leser Wendender - Hingabe an seine Geliebte sein will. Sie wird von ihm im Stil des Connaisseurs beschrieben, sachlich, die zugrundeliegende Begeisterung aber ahnen und wiederholt mit präzise ausgearbeiteten Langsätzen, gleichsam in einem Atemzug zu lesen, durchbrechen lassend. Nicht immer auf der Höhe mit der stilistischen Eleganz seiner Marienverehrung ist hingegen der beschworene Marienzauber; der an sich abstrakt angelegten Figur hätte etwas mehr konkrete Sinnlichkeit, Beschreibung ihrer Stimmfärbung, ihres nacktbadenden Körpers, ihrer Wortwechsel mit dem Erzähler, etwas in der Art gutgetan, manche unwesentliche Handlungsabläufe wiederum hätten ruhig gekürzt werden können.
Die extrem passive, vielleicht unsichere und gewiss Methode habende Haltung des Erzählers, dem es passieren kann, wegen eines danebenstehenden Taxifahrers keine Worte für Marie zu finden, steht in krassem Gegensatz zu der eines Rivalen um ihre Gunst, eines gewissen Jean-Christophe, mit dem er sich in seinen Erinnerungen ebenfalls ausführlich beschäftigt. Auch diesen zeichnet er von kleineren Bosheiten abgesehen, bei denen er sich der Zustimmung des Großteils der Leserschaft sicher sein kann, in sehr sachlichem Ton, Jean-Christophe, erfolgreicher Geschäftsmann und Reitstallbesitzer, wird als oberflächlich und eroberungsfreudig geschildert, als jemand, der die auf einer Vernissage ausgestellten Werke mit der Haltung mustert, "möglicherweise zu kaufen, ohne jegliche Verpflichtung, sie sich ansehen zu müssen". Das Berührtwerden von Marie, bemerkenswerterweise noch ohne sie überhaupt gesehen zu haben, bringt ihn gehörig aus der Bahn.
Seine größte Stärke hat der Roman da, wo er an die komplexe Struktur der Wirklichkeit rührt. Die Kräfte, die ein intuitives Handeln weckt und bindet, werden glaubhaft und nicht ohne Augenzwinkern, wenn beispielsweise das Wort "Gefühlsergüsse" auf einmal in einem neuen, quasi positiven Zusammenhang auftaucht, dargestellt. Vor allem mit der Kraft der Imagination scheint Jean-Philippe Toussaint eigene interessante Erfahrungen gemacht zu haben, sein Buch legt davon Zeugnis ab, wenn es die Verdoppelung der Bilder durch Erinnerung, das Entstehen besonderer Bilder voll Zweck, Kraft und Weiterentwicklungspotential, das Fänomen des "deja vu" und Ähnliches zum Gegenstand nimmt. "Nackt" kann überhaupt als Liebesgeschichte in Bildern bezeichnet werden: ein nur aus Honig bestehendes Kleid tragendes, von einem Bienenschwarm begleitetes Mannequin, ein Café als kleine Oase auf einem menschenleeren Platz im verregneten herbstlichen Paris, der Blick durch die Lichtkuppel eines Tokyoter Kulturtempels auf die darunter befindliche Menschenmenge, ein wegen einer in Flammen aufgegangenen Fabrik unter einer Duftwolke von verbrannter Schokolade liegendes Elba, wo das Prinzip der Trennung erste Risse bekommt - die Bilder und Szenerien fallen weitgehend mit den Stationen der Handlung und ihrer Grundstimmung zusammen, strahlen in andere Wirklichkeitsfalten hinein und blühen in veränderter Form in einem efemeren diesseitigen Lebensband wieder auf.
(fritz; 09/2014)
Jean-Philippe
Toussaint: "Nackt"
(Originaltitel "Nue")
Aus dem Französischen von Joachim Unseld.
Frankfurter Verlagsanstalt, 2014. 158 Seiten.
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Einige
weitere Bücher französischer Autoren:
Jean-Luc Seigle: "Der Gedanke an das Glück und an das Ende"
Der 9. Juli 1961 ist ein einschneidender Tag für die Familie
Chassaing. Für Albert, seine Frau Suzanne und ihren
jüngeren Sohn Gilles. Der ältere, Henri, ist als
Soldat im Algerienkrieg.
An diesem Tag wird den Chassaings der erste Fernseher in das Dorf
geliefert, weil eine Sendung über den Krieg, in der Henri
auftritt, ausgestrahlt wird. Alle werden kommen. Auch erfährt
man auf eine geradezu zärtliche Weise durch Albert, dass
Suzanne, die alles Neue liebt, an diesem Tag anfängt einen
anderen Mann zu begehren. Er weiß, er wird nichts dagegen tun
können, weil der Zweite Weltkrieg ihn verändert hat.
Er kämpfte in der Festung Schoenenbourg der Maginotlinie. In
der Nacht des 9. Juli erhängt sich Albert. Zuvor
eröffnet er seinem jüngeren, gerade Honoré
de Balzacs "Eugénie Grandet" mehr erlebenden als
lesenden
Sohn Gilles die Möglichkeit, in dieser ländlichen
Arbeiterwelt seiner Leidenschaft für die Literatur
nachzugehen. Er bittet den alten Lehrer, sich um ihn zu
kümmern.
Die Gefühlslagen der verschiedenen Familienmitglieder in der
Stimmung der Nachkriegszeit werden so einfühlsam und genau
beschrieben, dass man sich dem nicht entziehen kann. Wie nahe sich die
Mitglieder einer Familie auch sind, einander lieben und wie wenig sie
ihr Leben doch miteinander teilen können, dieser Erfahrung
wird in dem Roman in gekonnt verknappten Dialogen und einer poetischen
und schnörkellosen Sprache nachgegangen - auf eine dem
Menschen zutiefst zugewandte Weise.
Jean-Luc Seigle, 1959 in Clermont-Ferrand geboren, ist Schriftsteller
und lebt in Nordfrankreich am Meer. Er hat Romane, Drehbücher
und Theaterstücke geschrieben. "Der Gedanke an das
Glück und an das Ende" ist sein erstes Buch auf Deutsch. (C.H.
Beck)
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Aurélie
Filippetti: "Das Ende der Arbeiterklasse. Ein Familienroman"
Aurélie Filippettis Vater Angelo, Sohn italienischer
Immigranten, war Minenarbeiter und kommunistischer
Bürgermeister in Lothringen. Ihr Großvater arbeitete
ebenfalls unter Tage und kämpfte in der Résistance.
Ausgehend von ihnen erzählt Aurélie Filippetti
berührend und literarisch überzeugend die Geschichte
ihrer Familie. Geprägt vom Algerienkrieg, der Frankreich
spaltete, und tief getroffen von wirtschaftlichen Desillusionierungen
waren Minenarbeiter wie sie die letzten Kämpfer gegen die
Ausbeutung ihrer Region. Aber ihr Leben wurde versteckt, geopfert,
vergessen. Aurélie Filippetti verleiht ihnen eine Stimme.
Ein ergreifender Familienroman und eine Hommage an die Arbeiterklasse
des 20. Jahrhunderts.
Aurélie Filippetti wurde 1973 in Lothringen geboren. Sie
studierte Literatur an der École normale
supérieure, war Ratsmitglied der Grünen in
Paris
und gesellschaftspolitische Beraterin von
Ségolène Royal. (S. Fischer)
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Céline
Minard: "Mit heiler Haut"
"Über-die-Ebene-fließendes-Wasser", ein
Indianermädchen,
dessen Familie zusammen mit ihrem gesamten
Stamm getötet wurde, schlägt sich alleine und ziellos
durch die Prärie. Hier trifft sie auf eine Siedlerfamilie, die
sich auf den beschwerlichen Weg in den Westen gemacht hat, um dort ihr
Glück zu suchen. Bald schließen sich weitere
Abenteurer dem Treck an, und ein praller Western mit wilden
Schießereien vor spektakulären Landschaften und
voller extremer Charaktere nimmt seinen unerbittlichen Lauf.
Céline Minard hat mit diesem Überraschungserfolg
eine neue Art des Western erfunden: weiblich, humorvoll,
leichtfüßig und funkelnd literarisch. Eine
große Autorin, die wie nebenbei auch das männlichste
aller Genres, das des wilden Westerns, souverän beherrscht.
Céline Minard, geboren 1969 in Rouan, lebte in Amerika,
derzeit wohnt sie in Paris. Sie veröffentlichte bislang acht
Bücher, von denen einige wichtige Preise gewonnen haben, unter
Anderem den "Franz-Hessel-Preis". Sie dekliniert in ihren
Büchern verschiedene populäre Genres (Science
Fiction, Fantasy, Krimi etc.) spielerisch
durch, insbesondere klassisch männlich dominierte Genres, die
sie sehr varianten- und trickreich ins Weibliche wendet. (Matthes
& Seitz)
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