Nicholas Evans: "Wenn Sprachen sterben"
Und was wir mit ihnen verlieren
Ein engagiertes und
fundiertes Plädoyer für sprachliche Vielfalt!
Die nachhaltige Erhaltung und Nutzung der biologischen Vielfalt gelten
heutzutage als wichtige Grundlagen für das menschliche Wohlergehen. Der
Artenschutz in der Biologie ist selbstverständlich - zumindest solange
von Wirtschaft und Konsumenten keine massive Änderung ihres Verhaltens
gefordert ist. Zur Verhinderung des Artensterbens gibt es
Umweltverträglichkeitsprüfungen, Artenschutzkonventionen, Zuchtprogramme
und vieles mehr. Auch wenn dieser Maßnahmenkatalog - oder die Erhaltung
und Nachzucht im Gehege - das Verschwinden von Atlasbär, Berberlöwe und
Pyrenäensteinbock nicht aufgehalten haben, wird der Artenschutz
allgemein gutgeheißen.
Doch anders ist es mit dem Schutz der Sprachen; oft sind nicht einmal
die letzten Sprecher einer Sprache bereit, ihren Kindern aktiv die Sprachkultur
der Vorfahren zu vermitteln. Als Tevfik Esenç 1992 starb, war er der
letzte Sprecher des Ubychischen. Was ging oder geht mit den letzten
Kompetenten und ihren Sprachen wie Ubychisch (Kaukasus, Türkei), Eyak
(südliches Alaska), Pumpokolisch (Nordostsibirien), Lardil (Mornington
Island nördlich von Australien) verloren? Warum ruft der Verlust eines
dieser Idiome nicht ebenso großes Entsetzen hervor wie Elefantenjagd
oder Walfang?
Den Unterschied in der Betroffenheit kann der Autor Nicholas Evans nicht
klären, doch der in Canberra, Australien, lehrende Professor für
Sprachwissenschaft weiß, was an vielen Sprachen einzigartig ist und
warum das Vergessen, Verlernen und Aussterben jeder der derzeit noch
6000 gesprochen Sprachen ein Verlust ist. Er füllt mehr als 400 Seiten,
um unser sprachliches Wissen auf den Kopf zu stellen.
Als Spezialist für Ureinwohnersprachen Australiens schildert er
Lernerlebnisse, die in Europa kaum möglich wären. Der schulische
Sprachenkanon mit dem nahe verwandten Englisch oder auch Latein,
klassischem Griechisch, den romanischen und slawischen Sprachen gibt
keinen Hinweis auf die Reichhaltigkeit an Sprachformen und
Ausdrucksweisen, wie sie der Autor schildert und für deren Wiedergabe
der Übersetzer Robert Mailhammer stets gut nachvollziehbare Beispiele
aus dem Deutschen findet. Kayardild, eine von Evans erforschte
nordaustralische Sprache mit gerade noch 20 Sprechern, hat sechs
verschiedene bedeutungsunterscheidende R-Laute. Das oben erwähnte
ausgestorbene Ubychgische kam hingegen mit zwei Vokalen aus und nutzte
zudem über 80 verschiedene Konsonanten. Das nordostkaukasische
Artschibisch (Evans schreibt Archi) etwas mehr als 1300 Sprecher, kann
beispielsweise aus einem Verb theoretisch rund 1 500 000 verschiedene
Formen bilden. (Ist das ein Trost für konjugationsgeplagte
Lateinschüler, die sich mit drei Personen, Einzahl oder Mehrzahl, sechs
Zeiten, dem Gegensatz zwischen Indikativ und Konjunktiv und einem
aktiven und einem passiven Paradigma abmühen? Von lavare, "waschen",
gibt es also inklusive Imperativen, Infinitiven und Partizipien "nur"
einige hundert Formen ...) So sollten all jene, die sich von der
Zählweise des Französischen verwirren lassen (z.B.
quatre-vingt-dix-huit, "vier[mal] zwanzig-zehn-acht", also 98)
überlegen, wie man in einem Senärsystem zählt, das auf der Grundzahl
sechs basiert wie etwa in der Sprache Nen in Papua-Neuguinea. Die
scheinbar runde Zahl 200 setzt sich zusammen aus "fünf sechsunddreißig
zwei dreisechs" oder mathematisch (5 x 62) + (3 x 6) +2.
Sprachen setzen also unterschiedliche Denkvorleistungen voraus. Sie
unterscheiden sich kaum durch das, was sie ausdrücken können, sondern
durch das, was gesagt werden muss, vom System gefordert wird: Aymara
(Bolivien), Dalabon (Australien), Östliches Pomo (Nordkalifornien) und
zahlreiche andere Sprachen in nahezu allen Regionen der Erde, nicht aber
in Europa, haben Evidentialitätssysteme. Je nachdem, ob ein Ereignis vom
Sprecher selbst beobachtet wurde, ob man davon nur vom Hörensagen weiß,
ob es gesicherte Anzeichen gibt usw., nimmt das Verb andere Endungen an.
Im Deutschen kann man dafür Adverbien wie sicherlich, angeblich,
möglicherweise benutzen, ist aber nicht gezwungen, die Beziehung
zwischen dem Inhalt des Gesprächs und der Quelle der Information
offenzulegen.
In weiten Teilen Australiens ist die Sprache an ein Territorium
gebunden. Die traditionell mehrsprachigen Aborigines wechselten an den
Stammesgrenzen stets die Sprache; somit war die unmittelbare Umgebung
immer benennbar, wobei diese Sprachen oft nicht verwandt sind - und
deshalb keinesfalls als Dialekte einer übergeordneten Sprache gesehen
werden sollten. Natürlich wechselten sie auch die
Evidentialitätssysteme. Nicholas Evans begnügt sich nicht damit,
herauszufinden, ob die Sprachsysteme noch intakt sind, sondern auch, ob
Zwei- und Mehrsprachige diese aus unserer europäischen Sicht fremden
Wesenszüge vor einem Wechsel zur Mehrheitssprache (Englisch, Spanisch,
...) noch beherrschen. Oder ob die mit den Sprachen verknüpften
Denkweisen schon zuvor verloren gehen.
Dalabon und Östliches Pomo haben nur noch jeweils weniger als 20
kompetente Sprecher; kaum jemand von ihnen ist jung und hat noch eigene
Kinder zu erziehen, die in ihrem sprachlichen Großwerden den
Sprachschatz ihrer Vorfahren kennenlernen. Bis zum Ende des 21.
Jahrhunderts wird die Hälfte der derzeit etwa 6000 gesprochenen Sprachen
verstummt sein!
Der umtriebige Linguistikprofessor Nicholas Evans macht deutlich, wie
wertvoll jede einzelne Sprache ist, da sie das Denken, Wissen und die
Kultur derer enthält und weitergibt, die sie noch sprechen. Er
präsentiert in großer Zahl und oft aus seinem Arbeitsumfeld in der
südlichen Hemisphäre staunenswerte Beispiele für den unglaublichen
Reichtum an menschlichen Ausdrucksweisen, fordert dabei vom Leser ein
nicht immer einfaches Nachvollziehen von grammatischen und kognitiven
Besonderheiten und vergisst auch nicht auf die Wortkunst und
sprachtypische Reim- und Versformen in nicht schriftgeprägten Regionen.
Die wechselnde Geschwindigkeit und Detailfreude in der Schilderung mag
an Unterschieden in der Datenlage liegen. Oft hat es auch den Anschein,
dass das Buch aus wiederverwerteten Vorlesungsskripten aufgebaut ist;
erst ein sorgfältiges Lektorat hätte es verhindert, dass Verweise ins
Leere gehen, Zahlen falsch wiedergegeben sind und auch häufig zitierte
Sprachen nicht auf den Übersichtslandkarten am Ende des Buches zu finden
sind.
Es ist ein hervorragendes Buch über die Vielfalt menschlicher Kultur,
dem noch viele weitere Auflagen und damit genügend Gelegenheiten zur
Korrektur zu wünschen sind!
(Wolfgang Moser; 07/2014)
Nicholas Evans: "Wenn Sprachen sterben und
was wir mit ihnen verlieren"
(Originaltitel "Dying Words. Endangered Languages and What They Have To
Tell Us ")
Übersetzt von Robert Mailhammer.
C.H. Beck, 2014. 416 Seiten.
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Nicholas Evans ist Leiter des
"Department of Linguistics" und Professor an der "School of
Culture, History and Language" am "College of Asia and the
Pacific der Australian National University" in Canberra. Als
Fachmann für bedrohte Sprachen hat er mehrere Grammatiken und
Wörterbücher von Aborigines-Sprachen verfasst. Sein besonderes Interesse
gilt dem Zusammenhang von Linguistik und Anthropologie.
Weitere Buchtipps:
Steven Pinker: "Der Stoff, aus dem das Denken ist. Was die Sprache
über unsere Natur verrät"
Wie kommt man direkt an das Denken heran? Über die Sprache. In ihr
liegen unsere Vorstellungen von Raum und Zeit begründet, von Sex und
Intimität, von Macht und Anständigkeit. Steven Pinker sieht sich daher
die alltägliche Sprachverwendung genau an - unsere Gespräche, Witze,
Rechtsstreitigkeiten - und zeichnet ein lebendiges und überraschendes
Porträt unseres Geistes und der menschlichen Natur. Mit viel Esprit,
Sprachgefühl und Beispielen aus Alltag und Populärkultur gelingt es ihm,
schwierige Sachverhalte einfach und überzeugend zu erklären und uns zu
einem neuen Blick auf uns selbst zu bewegen. (S. Fischer)
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Kristin Kopf: "Das kleine
Etymologicum. Eine Entdeckungsreise durch die deutsche Sprache"
Etymologien veranschaulichen ideal die erhellende Sprachgeschichte des
Deutschen: Eine kurzweilig-spannende Erkundung unserer Sprache, die
zeigt, wie und warum sie sich verändert.
Wussten Sie schon:
- Dass die Tante einmal Base und der Onkel Vetter gerufen wurden?
- Dass fertig und führen von fahren abgeleitet sind?
- Dass Zwieback und Biskuit mehr miteinander gemein haben, als Gebäck zu
sein, und Kekse aus dem Englischen stammen?
- Dass Deutsch
mit Hindi verwandt ist?
- Dass Teich und Deich einmal ein Wort waren?
- Dass der Pariser Modeschöpfer Louis Réard auf die Bezeichnung Bikini
verfiel, weil er das Kleidungsstück als "anatomische Bombe" sah: Er
wählte das Wort, weil er sich eine explosive Wirkung davon erhoffte. Das
war nicht unberechtigt, tatsächlich wurde der Bikini zu Beginn als
skandalös und unsittlich wahrgenommen und gleich an vielen Stränden
verboten. (Klett-Cotta)
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Stefanie Schramm, Claudia
Wüstenhagen: "Das Alphabet des Denkens. Wie Sprache unsere Gedanken
und Gefühle prägt"
Worte können trösten oder tief verletzen, manche hängen einem tage- oder
gar jahrelang nach. Wer eine Liebeserklärung bekommt oder in einen
heftigen Streit gerät, der spürt, wie Sprache berührt. Oftmals bemerken
wir ihren Einfluss aber gar nicht, deshalb sind wir so gut zu manipulieren,
mit Werbung zum Beispiel. Stefanie Schramm und Claudia Wüstenhagen
zeigen, dass Sprache unser Leben und Denken auf weit umfassendere Weise
prägt, als wir ahnen. Sie beeinflusst unsere gesamte Weltwahrnehmung: So
kennt die Sprache eines Aborigine-Stammes keine räumlichen
Beschreibungen wie "vor", "hinter", "rechts" oder "links", sondern nur
Himmelsrichtungen. Das hat den Orientierungssinn der Aborigines derart
geprägt, dass sie jederzeit exakte Angaben zur Lage bestimmter Orte
machen können - selbst bei Nacht. Die Autorinnen tragen die
verblüffenden Erkenntnisse von Wissenschaftlern unterschiedlichster
Disziplinen zusammen - von der Psycholinguistik, der Psychologie, den
Neurowissenschaften bis hin zur Ökonomie. Am Ende schildern sie, wie wir
die Macht der Worte gezielt für uns nutzen können. So ist bewiesen, dass
Angstgefühle nachlassen, wenn man sie in Worte fasst. Und Fremdsprachen
trainieren nicht nur das Hirn, sondern wecken neue Facetten der
Persönlichkeit. (Rowohlt)
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Douglas
Hofstadter, Emmanuel Sander: "Analogie. Das Herz des Denkens"
Sie sind der Treibstoff und das Feuer unseres Denkens: In den Analogien
liegt für Douglas Hofstadter und Emmanuel Sander der Urquell unserer
Kreativität. Nur durch sie finden wir uns in der Welt zurecht - und sind
obendrein viel intelligenter als Computer.
Sie steigen in einen Aufzug, mit dem Sie noch nie zuvor gefahren sind.
Wissen Sie, was Sie tun müssen, um nach oben zu kommen? Natürlich - und
der Grund dafür sind die Analogien: Der Aufzug funktioniert wie alle
anderen Aufzüge. Alles, was wir wissen, setzen wir in Beziehungen und
schaffen es dadurch, Ähnlichkeiten zu entdecken, uns im Chaos der Welt
zurechtzufinden. Diese Ähnlichkeiten machen wir uns täglich und meist
ganz unbewusst im Umgang mit Neuem und Fremdem zunutze. Wie dieses
Feuerwerk des Denkens "funktioniert", das zeigen Douglas Hofstadter,
brillanter Autor und "Pulitzer"-Preisträger, und der Psychologe Emmanuel
Sander. Sie nehmen uns mit auf eine abenteuerliche Reise in die Welt der
Sprache und des Geistes - und sie zeigen uns, warum Gedanken ohne
Einfluss der Vergangenheit undenkbar sind. Ein inspirierendes
Lesevergnügen! (Klett-Cotta)