Jutta Jacobi: "Die Schnitzlers"
Eine Familiengeschichte
Weil Erinnerung Leben
bedeutet. Die Schnitzlers.
Arthur Schnitzler, geboren 1862 in Wien und gestorben 1931 ebenda, war
und ist einer der meistgespielten Autoren auf deutschen
Bühnen. Er hat nicht den Ruf eines Klassikers wie Goethe,
vielleicht sogar missverstanden als Unterhaltungsschriftsteller, aber
er ist nicht vergessen. Seine Stücke wie "Leutnant Gustl" oder
"Der Reigen" werden nach wie vor gespielt, und wie damals im Wien der
Jahrhundertwende haftet ihnen nach wie vor der Geruch von Skandal an.
Die Erinnerung ist Gegenwart ist Leben.
Über
Arthur Schnitzler gibt es vielfältige Zeugnisse.
Seine Werke sind in Gesamtausgaben veröffentlicht, seine
Tagebücher und diverse Briefwechsel sind ediert, es gibt eine
Autobiografie und Biografien. Aber seine Familie? Woher kommt er, und
wie geht es weiter? Gibt es Nachfahren - und wenn ja, wo und wie leben
sie? Die Germanistin und Autorin Jutta Jacobi hat sich auf die Suche
gemacht und nicht nur die vorhandene Literatur aufgearbeitet, sondern
auch selbst recherchiert. Erinnerungs- und Wirkungsstätten
aufgesucht, mit den Nachfahren gesprochen. Daraus entstand eine
Erzählung über gelebtes Leben.
Generationenübergreifend und transatlantisch.
Die Geschichte beginnt in der Österreichisch-Ungarischen
Monarchie, als sich der begabte Sohn eines jüdischen Tischlers
1858 per Leiterwagen nach Wien aufmachte, um dort Medizin zu studieren.
Johann Schnitzler wurde nicht nur Arzt, sondern auch berühmt
und wohlhabend. Als Hochschullehrer und Mitbegründer der
Poliklinik hat er für sich alle Hoffnungen der neuen liberalen
Zeit eingelöst. Auch seine Söhne wurden
Ärzte. Vorerst zumindest.
Mit einer gewissen heiteren Distanz und offener Neugier erschreibt sich
die Autorin das reale Leben ihrer Protagonisten in all ihrer
Normalität. Wie lebten die Schnitzlers? Die Eltern, dann aber
vor allem Arthur Schnitzler, der Schriftsteller? Als der Vater 1893
stirbt, gibt der Sohn seine Stelle als Sekundararzt an der Poliklinik
auf, um von nun an als Dichter zu leben. Wir erfahren von Verhandlungen
am Theater, von Reisen, Sommerfrischen, Radfahren, Theaterbesuchen und
Beziehungen. Vor allem vom Radfahren, das seine große
Leidenschaft wurde. Er macht die "Bicycle-Prüfung" und wird
ordentliches Mitglied der "Radfahrer-Union Vorwärts" und
soupiert gelegentlich mit Clubmitgliedern. Vor allem aber unternimmt er
Radtouren, gerne mit befreundeten Künstlern wie Felix Salten,
sogenannte Schriftstellerausfahrten, die sich allsommerlich wiederholen.
Aber wie konnte man sein Leben vor dem Hintergrund eines wachsenden
Antisemitismus leben? Immerhin, so tröstet die Autorin, sind
nicht alle Nicht-Juden, die Schnitzler kannte, zu Antisemiten geworden.
Und als ihm nach der Veröffentlichung von "Leutnant Gustl", in
dem er den Ehrenkodex des österreichischen Militärs
angreift, sein Offiziersrang aberkannt wurde, schrieb er seiner Mutter:
"Wenn ich noch einmal einen Lieutenant Gustl schreiben
würde - er fiele nicht mehr so liebenswürdig aus. Ich
hoffe du betrachtest das ganze ausschließlich als Amusement."
Er kam mit Widrigkeiten zurecht. Und er wurde
seriös. Mit 40 wurde aus dem Bohemien ein Familienmensch. Er
heiratete, bekam zwei Kinder, Heinrich und Lili. Auf dem Familienfoto
zehn Jahre später, das auch den Bucheinband ziert, sieht man
eine großbürgerliche, ernst blickende Familie, nur
der keck sitzende Strohhut des Vaters lässt den Bohemien in
ihm erahnen. Der in Samt gekleidete kleine Heinrich war dann der, der
vor den Nazis flüchten konnte und die Familiengeschichte in
die USA trug. Lili hingegen sollte mit nur 19 Jahren Selbstmord begehen.
Mit Arthur Schnitzlers Nachfahren wurde seine Familiengeschichte eine
transatlantische. Der Sohn Heinrich wurde Schauspieler und Regisseur,
emigrierte 1938 in die USA, unterrichtete Regie in New York und Los
Angeles, und kehrte Ende der 1950er-Jahre nach Wien zurück, wo
er am Theater in der Josefstadt eine künstlerische Heimat fand
und als Nachlassverwalter seines Vaters tätig war. Seine
Kinder führten die Familientradition fort und wurden ebenfalls
Künstler. Peter als Filmemacher, Regisseur, Maler und
Schriftsteller in Los Angeles, Michael als Geiger in Wien und
Naturschützer in Costa Rica. Hier bricht die Autorin ihre
Erzählung ab. Sie lässt nur die Enkelin Giuliana noch
zu Wort kommen, die nun auch in Wien lebt und sich entgegen der
Familientradition zur jüdischen Religion bekennt.
Das Spannende an dieser vertikalen Familiengeschichte ist, wie jede
Generation aufs Neue mit den Schwierigkeiten und auch
Möglichkeiten umgeht, die ihr die Geschichte zumutet. Zuerst
der soziale Aufstieg und die Hoffnung auf eine demokratische
Gesellschaft für alle im 19. Jahrhundert, dann der aufkommende
Antisemitismus, Glanz und Erfolg, aber auch Schmähung des
Hauptakteurs, Vertreibung durch den NS-Staat, neue Existenz in den USA
und teilweise Rückkehr nach Wien. Sie haben das, was heute in
der Alltagspsychologie als Basis unseres Lebens betont wird: Resilienz.
Widerstandsfähigkeit. Die Fähigkeit, Krisen zu
bewältigen und als Anlass für Entwicklungen zu nutzen
durch Rückgriff auf persönliche Ressourcen. Die
Künstlerfamilie Schnitzler lebt in dieser Fähigkeit
in jeder Generation aufs Neue. Ihre Geschichte ist eine der
Würde und Gelassenheit, aber auch des Amüsements und
der Freude. Trotz mancher Tragik.
Jutta Jacobi gelingt es, die Familiengeschichten der Schnitzlers auf
das Wesentliche zu konzentrieren und ein Geschichtspanorama von Wien in
die Vereinigten Staaten von Amerika und retour, und eine Zeitreise vom
19. ins 21. Jahrhundert zu skizzieren. Auch wenn der Handlungsverlauf
bekannt ist, so ist es doch spannend und genussvoll zu lesen.
Außerdem ist laut Verlagsangaben das Buch von der Familie
autorisiert. Sehr gelungen!
(Brigitte Lichtenberger-Fenz; 10/2014)
Jutta
Jacobi: "Die Schnitzlers. Eine Familiengeschichte"
Residenz Verlag, 2014. 304 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen.
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Jutta
Jacobi, geboren 1955, studierte Germanistik und Theaterwissenschaft in
München. In
Wien absolvierte sie eine Ausbildung zur
Feldenkrais-Pädagogin. Sie lebt, schreibt und unterrichtet in
Hamburg.
Ein weiteres Buch der Autorin:
"Zarah Leander. Das Leben einer Diva"
"Kann denn Liebe Sünde sein", "Yes, Sir", "Davon geht die Welt
nicht unter" - ihre Lieder sind Dauerbrenner, ihre
Bühnenauftritte Legende. Der Schatten ihrer Karriere: ihr
Wirken im
Dritten
Reich. Jutta Jacobi hat bisher unbekannte Fakten
zutage gefördert, die das Bild der Diva in einem neuen Licht
erscheinen lassen. Es ist eine wahrhaft europäische
Geschichte, und sie handelt von der Gier nach Ruhm und Geld, von
großen Triumphen und vom Ausgestoßensein, von
Lampenfieber, Alkohol und Depressionen, von anhänglichen
Schwärmern und gehässigen Journalisten, von nie enden
wollenden Spionagegerüchten und einer grandiosen
Selbstinszenierung: als Diva. (btb)
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Weitere
Buchtipps:
Wolfgang Lukas, Michael Scheffel (Hrsg.): "Textschicksale. Das Werk
Arthur Schnitzlers im Kontext der Moderne"
Ungeachtet des anhaltenden Interesses an Person und Werk Arthur
Schnitzlers sind zahlreiche Fragen im Zusammenhang der Produktion,
Rezeption und Adaption der Werke des großen
österreichischen Autors nach wie vor unzureichend erforscht.
Die hier versammelten Beiträge entwickeln neue Perspektiven
und Forschungsansätze, so u. A. zu bislang kaum behandelten
Texten des Früh- und Spätwerks, zu den Beziehungen
Schnitzlers zu zeitgenössischen Autoren (u. A. F. v. Saar, J.
Wassermann), zur Stellung des Werks innerhalb zentraler
epochaler Diskurskomplexe wie dem Antisemitismus und der
Psychiatrie/Psychoanalyse, zu Aspekten der (Inter-)Medialität
(Musik und Film) und Materialität sowie zur Geschichte der
inner- und außereuropäischen Rezeption (u. A.
England und China). (De Gruyter)
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Gerhard
Hubmann, Isabella Schwentner (Hrsg.): "Frau Bertha Garlan.
Historisch-kritische Ausgabe"
Mit "Frau Bertha Garlan" wechselte Arthur Schnitzler als
psychologischer Schriftsteller die Seiten: Die Erzählung folgt
der Perspektive der Heldin und schildert - zum Entsetzen vieler
Zeitgenossen - ihr erotisches Begehren; ihre Liebesversuche bleiben
allerdings zum Scheitern verurteilt.
Der fünfte Band der "Werke in historisch-kritischen Ausgaben"
dokumentiert die Entstehungs- und Editionsgeschichte der Novelle. Er
präsentiert alle erhaltenen handschriftlichen Textzeugen als
Faksimiles in Originalgröße. Die Transkription
veranschaulicht die Textgenese. Daneben enthält die Ausgabe
den Lesetext nach dem Erstdruck in der "Neuen deutschen Rundschau" mit
einem Variantenapparat bis zur Ausgabe letzter Hand. Die Texte werden
durch einen Kommentar erschlossen; als biografische Quelle werden im
Anhang erstmals die Briefe Franziska Lawners an Schnitzler aus der
Entstehungszeit der Novelle veröffentlicht. (De Gruyter)
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Christoph
Jürgensen, Wolfgang Lukas, Michael Scheffel (Hrsg.):
"Schnitzler-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung"
"Traumnovelle", "Leutnant
Gustl", "Fräulein Else", "Reigen",
"Liebelei". Als Autor von weltliterarischem Rang hat Arthur Schnitzler
die Epoche der Klassischen Moderne literarisch
äußerst produktiv und mit hochgradiger
Sensibilität für ihre Probleme und
Widersprüche begleitet. Sein Werk weist eine enorme motivliche
Bandbreite auf und verknüpft brennpunktartig eine Vielzahl
diskursiver Stränge aus der Sozial-, Anthropologie-,
Geschlechter-, Denk- und Wissensgeschichte. Das Handbuch führt
in Leben und Werk des Autors ein, bespricht alle Werke und beleuchtet
kulturhistorische Kontexte, Strukturen, Schreibweisen, Themen und die
Rezeption. (J.B. Metzler)
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Arthur
Schnitzler: "Später Ruhm"
Herausgegeben von Wilhelm Hemecker und David Österle.
Späten Ruhm erfährt Eduard Saxberger in
vorgerücktem Alter. Ein junger Mann sucht ihn auf und gibt
sich als Leser jenes schmalen Bandes zu erkennen, mit dem Saxberger
einst für Furore sorgte; der Verehrer lädt ihn in
einen Schriftstellerverein ein, denen er als Vorbild gilt. Zuerst
beschämt, an das verlorene Vergangene erinnert zu werden, dann
fasziniert von den Debatten um die wahre Kunst, schließt sich
Saxberger den Literaten an. Aber Neues zu schreiben, bemerkt er bald,
schafft er nicht mehr. Ein Jahr nach dem Erfolg von "Anatol" und ein
Jahr vor dem Durchbruch mit "Liebelei" werden in diesem jetzt erstmals
veröffentlichten frühen Porträt der
literarischen Boheme die Ängste und Zweifel des
32-jährigen Arthur Schnitzler sichtbar. (Zsolnay)
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Werner
Rosenberger: "Im Cottage. Wiens erste Adressen und ihre
berühmten Bewohner"
Wenn sie reden könnten, hätten sie viel zu
erzählen! Die prachtvollen Villen mit ihren paradiesischen
Gärten im Döblinger und Währinger Cottage -
"Cottääsch", wie die Eingeweihten sagen. Es sind
Häuser voller Geschichte und Geschichten. Das
Erzählen von ihrem frühen Glanz, den
berührenden und tragischen Ereignissen, die dort stattfanden,
und von den berühmten Bewohnern übernimmt Werner
Rosenberger. Er ist ein ausgesprochener Kenner dieses einzigartigen
Villenviertels. Flanieren Sie mit ihm durch die in ihrer
ursprünglichen Pracht erhaltene Gartenstadt und lassen Sie
sich von seinen Anekdoten über Künstler,
Schriftsteller und Schauspieler, die hier lebten, verzaubern.
(Metroverlag)
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