Jaroslav Rudiš: "Vom Ende des Punks in Helsinki"
Vom harten Leben eines Punks
im Sozialismus
Der 1972 im tschechischen Turnov geborene Drehbuchautor, Romancier und
Musiker Jaroslav Rudiš ist in erster Linie durch seine "Graphic
Novel" "Alois Nebel" bekannt, deren Verfilmung von Tomás Lunák
2011 (in deutschen Kinos 2013) in die Kinos kam. Er ist auch Mitglied
der "Kafka-Band", einer Gruppe, die bereits zehn Lieder aufgenommen hat
und Kafka-Lesungen
von Jaroslav Rudiš musikalisch begleitet.
Es geht in diesem Roman, anders als der Titel vielleicht suggerieren
will, nicht um die finnische Hauptstadt Helsinki, die jedoch im Laufe
des Buches eine nicht unwichtige Richtungsänderung beeinflussen wird,
sondern um eine etwas heruntergekommene Bar. Irgendwo in der tiefen
Provinz der ehemaligen DDR. In einer Kohlestadt. Diese Bar wird vom
Lebenskünstler Ole betrieben, einem ehemaligen Punk, der
mittlerweile Rocker ist. Das Publikum der Bar besteht aus
Stammgästen, die auf Spitznamen wie "Selbst-ist-der-Mann" oder gar
"Wasserleiche" hören. Die nicht vorhandene Speisekarte hat Gabis
Soljanka, Eier-in-Soße und Rollmöpse. Einfach, spartanisch gut und die
perfekte Unterlage für die alkoholischen Getränke, die Ole hier
ausschenkt.
Eine Beziehung kommt für Ole nicht mehr in Frage, das braucht er nicht
mehr, Frauenstress und so. So muss man nicht nett sein, oder gar
aufräumen, oder sich nach irgendwem richten. Neureiche oder
"Bio-Mütter", die schweineteure Kinderwagen vor sich herschieben, die
fast so teuer wie eine Nobelkarosse sind, mag er gar nicht. Auch
hässliche Leute nicht. Zumindest nicht in seiner Spelunke. Oder gar
Behörden, die sich um die Sanierung des Viertels kümmern, damit die
Neureichen auch hier bald ihren Frapuccino trinken können.
Noch weniger mag er diese, als sie ihm das "Helsinki" wegen
bauchtechnischer Mängel schließen und ihm so seine vermeintliche
Ersatzfamilie nehmen.
Abwechselnd mit Oles Geschichte wird die Geschichte der jungen Punkerin
Nancy erzählt, die im tschechischen Gebirge lebt. In der 1980er-Jahren
natürlich. Hinter dem Eisernen Vorhang. Nancys Geschichte wird in Form
von Auszügen aus ihrem Tagebuch erzählt. Da sie aus einer deutschen
Familie kommt, hat sie gute Noten in Deutsch, während ihre anderen Noten
extrem schlecht sind. Nancy ist eine Vollblutpunkerin, steht auf
die "Sex Pistols" und hat Angst vor der Verstrahlung durch
Tschernobyl, hängt mit Typen ab, die sich beispielsweise "Typhus"
nennen. Sie hat auch horrende Angst davor, von ihrem älteren Liebhaber
Helmut geschwängert zu werden, damit ihr nicht dasselbe Schicksal drohe,
wie ihrer Freundin Haschkarla, die von "Chaos" schwanger wurde und
gezwungen war, diesen auch zu heiraten.
Spätestens, während der seiner Bar beraubte Ole in Erinnerungen schwelgt
und sich Nancys Tagebuch einem Konzert der "Toten Hosen" 1987 in Pilsen
nähert, dämmert einem, dass die missglückte Flucht, die den Anfang des
Romans darstellt, Ausgangspunkt für alles hier Erzählte ist.
Jaroslav Rudiš überzeugt in diesem Roman, der stilistisch brillant
erzählt ist, mit seiner Figurenzeichnung, die nicht nur glaubhaft,
sondern auf voller Länge überzeugend ist. In gewisser Art und Weise hat
dieser Roman eine Nähe zu dem ebenso beeindruckenden
"Die Erfindung
des Jazz im Donbass" des ukrainischen Autors Serhij Zhadan, auch
wenn die beiden Bücher nur wenige wirkliche Gemeinsamkeiten aufweisen.
Außer vielleicht eine ganz besondere, fast sarkastisch schneidende Sicht
auf den mittlerweile längst verrosteten Eisernen Vorhang, ohne dabei je
sentimental etwas heraufzubeschwören, bzw. eine durchaus liebevolle
Sicht auch auf das, was danach aus den weniger schicken Gegenden
geworden ist, die nicht durch heftige Investitionen herausgeputzt worden
sind, sondern durch Nichtbeachtung einen ganz eigenartig dekadenten
Ost-Charme besitzen.
Seine Prosa ist den Figuren dieses Romans angepasst, wandelbar und sehr
abwechslungsreich. Von schnoddrigen Punkerdialogen über
Tagebucheintragungen einer pubertierenden, frechen aber doch
hoffnungsvollen Punkerin, bis hin zu einem seriös-sinnlichen
Schreibstil, es ist alles da und am richtigen Platz. Dass der Roman von
Eva Profousová ausgezeichnet übersetzt ist, macht die Lektüre sogar noch
besser.
Das, was Rudis hier so gut vermittelt, abgesehen von der großen
Sympathie, die er für seine Figuren hat, ist die Hoffnung und Energie,
die in jedem dieser Sätze steckt, das Gefühl, über die Musik Hoffnung
genährt zu haben, aus dem toten System entkommen zu können, nicht
ahnend, dass es sich sowieso ein paar Jahre später friedlich auflösen
würde.
Absolute Empfehlung, auch wenn man keine Vergangenheit als Punker
hat.
(Roland Freisitzer; 05/2014)
Jaroslav Rudiš: "Vom Ende des Punks in
Helsinki"
(Originaltitel "Konec punku v Helsinkách")
Aus
dem Tschechischen von Eva Profousová.
Luchterhand Literaturverlag, 2014. 349 Seiten.
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Jaroslav Rudiš,
geboren 1972, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. "Grand
Hotel", nach "Der Himmel unter Berlin" sein zweiter auf Deutsch
erschienener Roman, wurde anno 2006 verfilmt. Zuletzt erschien im Jahr
2012 "Die Stille in Prag" im Luchterhand Literaturverlag. 2012/13 hatte
Jaroslav Rudiš die "Siegfried-Unseld-Gastprofessur" an der
Humboldt-Universität zu Berlin inne.
Weitere Bücher des Autors:
"Die Stille in Prag"
Jeder Aufbruch hat einmal ein Ende. Die Revolution, die Anfang der
1990er-Jahre das Leben in Prag
zu einer einzigen großen Feier machte, ist längst vorbei. Jetzt ist
Spätsommer, das Licht ist bereits schwach und träge geworden. Doch bevor
sich der Sommer endgültig dem Ende zuneigt, wird für fünf Menschen
nichts mehr so sein, wie es vorher war ...
Fünf Menschen zwischen Straßenbahnlärm und dem Techno des
Herzens, zwischen Lichteffekten und Rockmusik - und ein Konzert der
Stille, das alles verändert. Petr, von seiner großen Liebe verlassen,
arbeitet nach einem abgebrochenen Studium als Aushilfe bei der
Straßenbahn. Auf einer seiner Fahrten trifft er die junge Punkerin
Vanda, die sich fest vorgenommen hat, mit 18 das Koksen sein zu lassen.
Ein Monat ist es bis dahin noch. Der angesehene Anwalt Wayne hat es
dagegen geschafft, sein Leben auf Erfolgskurs zu bringen. Doch dann
meint er, in den Nachrichten seinen im Irak stationierten Bruder
blutüberströmt auf einer Trage zu erkennen und wird völlig aus der Bahn
geworfen. Er weiß noch nicht, dass Hana, die im Flieger nach Prag sitzt,
nicht bereit ist, ihn aufzufangen. Und dann ist da noch der alte
Vladimír, der seine Frau verloren hat und sie nicht gehen lassen kann.
Den Auslöser für das ganze Übel auf der Welt sieht er im Lärm. Den Rest
seines Lebens verschreibt er dem Kampf für die Stille ...
Jaroslav Rudiš erzählt mit Eleganz und Lässigkeit - einmal still und
leise, dann wieder laut und knallend. Er erzählt von Menschen, die von
Hoffnung, Liebe
und Einsamkeit getrieben werden - und manchmal auch dem Leben selbst.
(Luchterhand)
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"Nationalstraße"
zur Rezension ...
"Grand
Hotel"
Fleischman arbeitet als Mädchen für alles im futuristischen "Grand
Hotel" mitten in der tschechischen Provinz. Wenn ihm sein Chef und
Cousin mit seinen angeberischen Frauengeschichten zu sehr auf die Nerven
geht, träumt er sich in seine Lieblingswelt hinein: die
Vielgestaltigkeit der Wolkenformationen. Bislang hatte noch nie eine
Frau bei ihm eine Chance, denn Fleischman ist der hübschen Meteorologin
aus dem Fernsehen
versprochen, der er ständig Briefe schreibt, die mit immer den gleichen
Autogrammkarten beantwortet werden. Wird es der Serviererin Ilja
gelingen, ihm die echte Liebe beizubringen, und wird er mit ihr seinen
größten Traum verwirklichen können: dem Provinzort und dem traurigen
Glanz des "Grand Hotel" zu entfliehen? (Luchterhand)
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