Yasmina Reza: "Glücklich die Glücklichen"
Ein surreal anmutender
Reigen
An der Käsetheke eines Supermarktes entbrennt ein absurder Ehekrach, in
dem es nur vordergründig um die richtige Sorte und unnötige Wartezeit
geht: Robert und Odile Toscano sind einander auf eigenartige Weise
einerseits zu vertraut, andererseits völlig fremd. Ihre Heimfahrt
verläuft schweigend - wie auch der Großteil ihrer Ehe.
In den sich anschließenden Kapiteln lernt der Leser zahlreiche Menschen
aus der Familie, dem Freundeskreis und dem weiteren Umfeld der Toscanos
kennen, alle mit ihren eigenen Geschichten und Erfahrungen. Er schaut
hinter viele teils starre, teils bröckelnde Fassaden, sieht
zwischenmenschliche Beziehungen, in denen Resignation, Überdruss,
Gewohnheit und eine sonderbare Erschöpfung dominieren; Liebe ist kaum
einmal auszumachen. Die meisten unter den Porträtierten führen ein
finanziell und emotional saturiertes Leben, in dem die Höhepunkte
lediglich Tiefpunkte sind und auch zahlreiche Seitensprünge
und Affären eher eine Belastung zu bedeuten scheinen. Während Ehepartner
einander nur aus Angst vor der Einsamkeit ertragen, klagen Alte über
ihre verschiedenen Krankheiten oder äußern unwillkommene Wünsche zu
ihrer Bestattung, betrügt eine Protagonistin ihren Mann in dem Wissen,
dass ihr Liebhaber sie bei nächster Gelegenheit ebenfalls betrügen wird.
In Form einzelner Kurzgeschichten reihen sich die Kapitel aneinander,
und jede dieser Kurzgeschichten wird von einer anderen Person erzählt,
sodass sich ein Reigen von kurzen Episoden, Charakteren und Schicksalen
ergibt. Zum Abschluss kommen noch einmal nacheinander Robert und Odile
Toscano zum Wort, sodass sich der Kreis schließt.
Alle Ich-Erzähler, die auf Robert Toscanos erstes Kapitel folgen, sind
dem Leser bereits aus den vorangegangenen Geschichten bekannt. Ein
interessantes, aber auch kühnes Romankonzept, denn der rote Faden lässt
sich hierbei kaum erhalten, die Handlung mäandriert üppig, und es
besteht die Gefahr, dass der Leser den Überblick über die zahlreichen
Protagonisten und ihre Verknüpfungen untereinander verliert. Yasmina
Reza, eine der bedeutenden Gegenwartsautorinnen vor allem im Bereich des
Theaters, begegnet dieser Herausforderung, indem sie mit einem knappen,
klaren Stil arbeitet; schmucklos-schön wirken die von Dialogen
dominierten Geschichten. Sie schafft eine eigenartige Stimmung, die fahl
und surreal anmutend über diesen miteinander durch so vielfältige
Beziehungen verbundenen, dabei jedoch um sich selbst kreisenden Menschen
liegt. Die Menschen sind in sich selbst, ihrem Alltag und unerfüllbaren
Sehnsüchten
gefangen und unternehmen nur müde, zum
Scheitern verurteilte Versuche, all diesem zu entfliehen.
Diesen Roman als ein düsteres Stimmungsbild zu bezeichnen, würde ihm
allerdings nicht gerecht, flicht Reza doch auch sehr viel Satire ein,
subtil und manchmal auch so offen skurril, dass der Leser laut auflachen
möchte in der ein oder anderen grotesk-komischen Situation. Die
Mittelschicht wird hier mit vielen ironischen Spitzen porträtiert.
Was fehlt, ist dann doch so etwas wie eine abschließende Aussage, zu der
sich der rote Faden hinbewegen sollte. Der Leser setzt sich fasziniert
und von der Spannung mitgerissen mit dem Personenreigen auseinander,
legt nach Beendigung der Lektüre das Buch zur Seite - und fühlt sich
sonderbar alleingelassen mit diesen vielen Schicksalen, die ihm jedoch
mangels der erwähnten zusammenfassenden Aussage rasch wieder entgleiten.
Das Fehlen dieser nachhaltigen Wirkung ist angesichts des insgesamt
brillant verfassten, fesselnden Romans schade.
(Regina Károlyi; 02/2014)
Yasmina Reza: "Glücklich die Glücklichen"
(Originaltitel "Heureux les heureux")
Aus
dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel und Frank Heibert.
Hanser, 2014. 176 Seiten.
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Yasmina Reza, 1957 geboren, ist Schriftstellerin, Regisseurin und Schauspielerin und die meistgespielte zeitgenössische Theaterautorin. Bei Hanser erschienen die Romane "Eine Verzweiflung" (2001) und "Adam Haberberg" (2005), "Im Schlitten Arthur Schopenhauers" (2006), "Frühmorgens, abends oder nachts" (2008) über Nicolas Sarkozy und zuletzt "Nirgendwo" (2012). Im Jahr 2011 wurde ihr Theaterstück "Der Gott des Gemetzels" sehr erfolgreich und mit Jodie Foster, Kate Winslet, Christoph Waltz und John C. Reilly hochkarätig besetzt von Roman Polanski verfilmt.