Katja Petrowskaja: "Vielleicht Esther"


Aufarbeitung der Vergangenheit im Spiegel des zwanzigsten Jahrhunderts

Katja Petrowskaja hat mit einem Textauszug aus dem zum damaligen Zeitpunkt noch unveröffentlichten Prosawerk "Vielleicht Esther" den "Ingeborg Bachmann-Preis" im Jahr 2013 gewonnen. Ordentliche Vorschusslorbeeren und Vorfreude auf das Buch, das wenige Monate später erschienen ist.

Eine überlieferte Erinnerung dient als Ausgangspunkt für diesen Text, die Geschichte von Esther, der Großmutter des Vaters, die alleine im besetzten Kiew zurückgelassen und von Soldaten erschossen wurde. Wer war dabei? Wer sah zu? Wer hat ihre letzten Worte gehört? Hieß sie wirklich Esther?

Statt eines Romans ist dieser Text nun allerdings eine Art Aufarbeitung der Geschichte ihrer Familie geworden. Ein Text, der natürlich erst durch die fiktionsbeladene Aufarbeitung eigenständiges, literarisches Profil gewinnt. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwimmt rasch, wenn sie die Suche nach den eigenen Wurzeln in diverse Archive führt und die entfernten Verwandten zu Figuren werden, die eine fast symbolische Wichtigkeit erlangen. Träume und Erinnerungen, sowie geträumte Erinnerungen an Erzählungen und Geschichten der Großmutter bestimmen den Text, der den Leser in die Ukraine und nach Polen hauptsächlich in den dreißiger und vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts führt.

"Als ich nach Kalisz kam, nieselte es. Es nieselte drei Tage lang, und ich glaubte, am Ende dieser Reise zum Ursprung zu gelangen, und der Reiseführer gab mir recht, dort stand, die keltische Wortwurzel von Kalisz bedeute Quelle oder Urpsrung, und hier in Kalisz und Umgebung sollen meinen Krzewins mehrere Jahrhunderte gelebt haben, all die Rivkas, Raizlas, Natans, Ozjiels, Józefs. Ich wusste nicht mehr, warum ich sie suchte und was die ursprüngliche Frage war, meine Suche war seit langem zur Sucht geworden ..."

Immer wieder tauchen weiter Zeugenaussagen auf, wie zum Beispiel Dina, die sich zu Silvester 2011 bei Katja Petrowskajas Mutter in Kiew meldet, weil sie erfahren hat, dass diese alles über die Schule Nr. 77 in Kiew sammeln würde. Sie hat diese Schule absolviert und ruft aus Jerusalem an. Auch sie hat ein typisch jüdisches Schicksal in der Sowjetunion erlebt: zu Kriegsbeginn nach Dagestan evakuiert, von dort Anfang der siebziger Jahre nach Israel emigriert, nie zurückgekehrt. Sie erinnert sich an die Namen aller Lehrer und Lehrerinnen, sowie an die ihrer Mitschülerinnen und Mitschüler.

Während die Autorin den Leser fast rastlos von Schauplatz zu Schauplatz schleift, wird man tief und fest in den Strudel dieses Texts gezogen, vielleicht gerade deshalb, weil er so fragmentarisch in kurzen Kapiteln verfasst ist und mit einer fast unüberschaubaren Menge an diffusen Protagonistinnen und Protagonisten eine eigenartig unsentimentale Stimmung verbreitet. Im Angesicht des gewählten Themas sicherlich eine Glanzleistung der jungen Autorin.

"Ich gehe von Denkmal zu Denkmal. Großmütter spazieren mit ihren Enkelkindern umher und schauen sich die Monumente an, oft nur, weil ich das gerade mache. Als die Ukraine vor zwanzig Jahren unabhängig wurde, bekamen mit der Zeit alle Opfergruppen ihr Monument: ein Holzkreuz für die ukrainischen Nationalisten, ein Denkmal für die Ostarbeiter, eines für zwei Mitglieder des geistlichen Widerstands, eine Tafel für die Zigeuner. Zehn Denkmäler, aber keine gemeinsame Erinnerung, sogar im Gedenken setzt die Selektion sich fort.
Was mir fehlt, ist das Wort Mensch."


Sehr wichtig für das Verständnis dieses Textes ist auch das Erkennen des Hypothetischen. Bereits der Titel suggeriert die Tendenz der Autorin, das fest Überlieferte, das Festgehaltene zu hinterfragen, an der Oberfläche der vermeintlich bekannten Tatsachen zu kratzen, so lange bis andere Möglichkeiten im Raum stehen. Das schafft eine offene, vielleicht auch unsichere Situation im Text, da sich der Leser zusammen mit der Autorin auf unsicheres Eis begeben muss, um zu eigenen und möglicherweise anderen Erkenntnissen als die Autorin zu kommen.

In diesem Sinn funktioniert Katja Petrowskajas Text wunderbar, auch wenn "Vielleicht Esther" nicht der Roman geworden ist, den der Rezensent nach dem fulminanten, titelgebenden Ausschnitt erwartet hatte. Doch Erwartungshaltungen sind dazu da, abgelöst und überboten zu werden.
Sehr schön gefeilte Prosa mit einer federleichten Prise augenzwinkernden Humors, welche die Lektüre dieses sehr starken Texts, der zwischen romanhaften, tagebuchartigen, journalistischen und einfach erzählenden Momenten pendelt, zu einem berührenden Leseerlebnis werden lassen, das nachdenklich stimmt und Betroffenheit erzeugt.

(Roland Freisitzer; 11/2014)


Katja Petrowskaja: "Vielleicht Esther"
Suhrkamp, 2014. 285 Seiten.
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