Ingrid Noll: "Hab und Gier"
Das Erben ist eine
angenehme, weil relativ mühelose Art der Eigentumsmehrung. Als
zukünftiger Erblasser sollte man sich vor den testamentarischen
Nutznießern dennoch in Acht nehmen.
Die bescheidene Pensionistin Karla hat in der städtischen Bibliothek ein
beschauliches Berufsleben zugebracht; sie schätzt heute fast vergessene
Meister der deutschen
Lyrik, erfreut sich an der Rezitation biedermeierlicher Gedichte
von Eduard Mörike oder der unfreiwillig komischen Reimen der
"schlesischen Nachtigall" Friederike Kempner und zehrt von der
Erinnerung an ungezählte Lektürestunden. Mit den modernen Methoden der
Leseanimation, mit Lesenächten und anderem Aktionismus, konnte sie
sich kaum anfreunden. Ihrem Wesensverwandten und früheren Kollegen
Wolfram war es nicht anders ergangen.
Unvermutet erhält Karla vom kinderlosen und verwitweten Wolfram eine
Einladung zu einem Gabelfrühstück. Eine schwere Krebserkrankung hat
seiner Gesundheit bereits stark zugesetzt; in seiner Gründerzeitvilla
ist er fast schon ein Pflegefall. Da er nur noch kurze Zeit zu leben
hat, macht er seiner ehemaligen Kollegin ein dreistufiges Angebot: Sie
werde ein Viertel seines ansehnliches Vermögens erben, wenn sie sich um
seine Beerdigung und die Beschriftung seines Grabsteines kümmere. Für
die Pflege bis zum Tod werde sie die Hälfte erhalten. Sie könne jedoch
auch alles erben, wenn sie ihn wunschgemäß beidhändig erwürge. Schnell
findet sich Judith, eine junge und in Kriminalromanen belesene
Bibliothekskollegin, die ihr bei der Erfüllung von Wolframs letztem
Willen zielstrebig zur Hand gehen möchte. An ihrer Seite ist Cord, ein
kräftiger junger Mann mit zwielichtiger Vergangenheit. Zu dritt ziehen
sie in die geräumige Villa in bester Lage ein.
Doch noch bevor das Testament unterschrieben ist, liegt Wolfram mit
unübersehbaren Würgemalen tot im Bett. Karla muss rasch Bündnisse
eingehen, um sich vor Erb-Feindinnen zu wehren. Wem kann sie vertrauen,
Judith oder doch Cord? Oder nur ihrem eigenen, schon arg belasteten
Gewissen? Hat sich Sabrina, die raffgierige Nichte von Wolframs Frau,
mit der neugierigen Nachbarin verbündet? Was verbirgt Judith im
Mansardenzimmer?
Es gibt ein glückliches Ende auf Kosten von ... Das sei hier nicht
verraten. Mit Lilli und Paul, Cords Kindern aus einer früheren
Beziehung, erlebt die kinderlose Karla schließlich späte Freuden und
Sorgen eines Flickwerkfamiliendaseins. Und feilt als sprachlich kundige,
frisch gebackene Villenbesitzerin an Testamentsformulierungen, die ihr
eigen Leib und Gut vor Habgier schützen sollen ...
Die fast achtzigjährige Ingrid Noll schafft es einmal mehr, mit
literarischer Todesverachtung die Abgründe des Zusammenseins ganz
normaler Menschen zu erhellen. Was moralisch ist und was nicht, ist
keine Frage der Gerichte, denn Polizei und Justizbehörden kommen in
ihren an Kriminalfällen
reichen Romanen kaum vor. In der Lektüre erleben wir die subjektive
Sicht einer älteren Frau, die ihr Hab und Gut schelmenhaft vor dem
gierigen Zugriff jener rettet, die wenige Seiten zuvor kaum besser oder
schlechter als sie selbst, jedenfalls aber noch nicht kriminell, durchs
Leben gingen. Die steten Wendungen zwischen Gut
und Böse, die Freude an konventionellen Ausdrucksweisen und die
Lust am subtilen Verbrechen machen auch dieses Buch zu einem
Lesevergnügen.
(Wolfgang Moser; 02/2014)
Ingrid Noll:
"Hab und Gier"
Diogenes, 2014. 252 Seiten.
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