Anousch Mueller: "Brandstatt"
Ein
vielleicht unterbewerteter Debütroman
Die Juroren des "Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs" 2013 haben dieses
Erstlingswerk von Anousch Mueller als viel zu unausgereift beurteilt und
ihm damit großes Unrecht getan.
Vielleicht ist "Brandstatt" (noch) nicht der richtig große Roman, aber
das waren auch viele andere Debütromane nicht. Doch Anousch Mueller
schreibt authentisch und vor allen Dingen höchst glaubwürdig. Mit großer
Wahrscheinlichkeit legte sie ihrer Ich-Erzählerin Annie Veit zumindest
einen Teil ihrer eigenen Lebensgeschichte in den Mund.
Annie Veit ist Studentin in Berlin, als sie im Sommer 2009 einem Mann
wieder begegnet, den sie seit 1993 nicht mehr gesehen hat, aber auf eine
ihr selbst unerklärliche Art nach wie vor begehrt. Schon als sie 14
Jahre alt war und noch in dem kleinen thüringischen Dorf lebte, wo sie
1979 (wie die Autorin selbst) geboren und aufgewachsen ist, hat sie sich
in diesen Jan Pajak verliebt. Ihre schöne und exaltierte Mutter hatte
wohl eine Beziehung mit diesem Mann, wie die pubertierende Annie, ihr
nachspionierend, herausfindet. Und auch sie selbst beschreibt in
Andeutungen eine eigene sexuelle Begegnung mit Jan Pajak, vor der dieser
aber zurückschreckt.
Zu dieser Zeit, im Juli 1993, verschwindet das Mädchen Lydia Noll, und
Jan Pajak gerät in Verdacht, sie missbraucht zu haben. Er verlässt bald
seinen abgelegenen Hof, die "Brandstatt", und auch Annie geht nach
Berlin.
Es sind diese drei Zeitebenen, auf denen Anousch Mueller ihren Roman
ansiedelt. Einerseits Annies Erinnerungen an ihre Kindheit in den
1980er-Jahren, andererseits die Zeit nach 1989 und vor allem das Jahr
1993, als Lydia Noll verschwindet und Annies Leben als Studentin in
Potsdam Anfang der 2000er-Jahre. Dort lebt sie mit dem Intellektuellen
Leo zusammen, mit dem sie vieles aushält, und dem sie eine auch für sie
selbst unerklärliche Leidenschaft entgegenbringt. Bis sie Jan Pajak
wiedersieht und nicht ruht, bis sie ihm erneut begegnet und mit ihm all
das auslebt, was damals ihrer Mutter
und auch ihr selbst nicht möglich war.
"Brandstatt" ist ein Roman über die Selbstbefreiung einer jungen Frau
aus einer schon seit ihrer Jugend
anhaltenden Krise. Authentisch und mit wahrhaftiger Stimme geschrieben,
hat der Roman den Rezensenten trotz vielleicht einiger stilistischer
Schwächen überzeugt. Er berührt durch die schmerzhafte Wandlung der
Ich-Erzählerin zur reifen Persönlichkeit, und wegen der Frage, was
eigentlich mit Lydia Noll geschehen ist, ergibt sich ein bis zum Ende
anhaltender Spannungsbogen.
Man darf auf Anousch Muellers zweiten Roman gespannt sein und hoffen,
dass sie ihn trotz der ungerechten Kritik und der mangelnden Beachtung
ihres Erstlings auch schreiben wird.
(Winfried Stanzick; 01/2014)
Anousch Mueller: "Brandstatt"
C.H. Beck, 2013. 223 Seiten.
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Anousch Mueller, geboren 1979, hat Neuere Deutsche Literatur und Jüdische Studien studiert und arbeitet als Journalistin. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.