Sławomir Mrożek: "Tagebuch 1962-1969"


"Literatur ist eine Art, sich zu denken, was man nicht sagen kann. Daher ist Literatur nur schriftlich."
(21. April 1963)


Der im August 2013 verstorbene Sławomir Mrożek gehörte zu den bekanntesten und am häufigsten gespielten polnischen Dramatikern und Satirikern, seine surrealen Farcen machen mit Mitteln der Absurdität und mit Humor deutlich, welchen gesellschaftlichen, vor allem auch politischen Erwartungen ein Mensch im 20. Jahrhundert ausgesetzt ist. Der Bevormundung durch Staat, Partei und Bürokratie setzte der begabte Karikaturist seit seinem ersten dramatischen Sketch "Die Polizei" (1958) spitze Worte und drastische Pointen entgegen.

Und der Mensch hinter diesem Erfolg? Die Sechzigerjahre, die im Tagebuch festgehaltenen Jahre 1962 bis 1969, markieren einen Wendepunkt im Leben des 1930 geborenen Polen, der als Sohn eines Postbeamten fast jedes Jahr in einem anderen südpolnischen Ort die Schule besuchen muss. Schließlich wird der Familie 1943 eine Wohnung im abgesiedelten Krakauer Ghetto zugewiesen. Als Student im Nachkriegspolen begeistert sich der spätere Machtskeptiker sogar für den Genossen Josef Stalin im östlichen Bruderland.

1962 aber hat er sich von der Staatsideologie abgewandt, ist in Ost und West ein anerkannter und erfolgreicher Schriftsteller, dessen Werke in alle wichtigen europäischen Sprachen übersetzt sind. Seine Stücke finden auf zahlreichen europäischen und us-amerikanischen Bühnen Applaus.

Im Juni 1963 verlässt er Polen für viele Jahre, um sich in Chiavari, nicht weit von Genua, anzusiedeln. Zu seiner alten Heimat fällt ihm ein, dass "man hier die doppelte Last tragen [muss]. Die der eigenen Unerträglichkeit plus die der anderen Exemplare, die einem tagtäglich auf den Nerven herumtrampeln" (11. Jänner 1963). Offensichtlich muss er sich täglich zwingen, Worte und Werke aufs Papier zu bringen. "Wenn ich morgen nicht anfange zu arbeiten, werde ich wahnsinnig", endet sein erster Tagebucheintrag in Italien (15. Juni 1963), um die Bedingung wenn - dann am nächsten Tag aufzulösen: "Ich arbeite, ich bin nicht wahnsinnig geworden."

Doch zeigt die ausführliche Biografie mit chronologischem Werk-, Übersetzungs- und Aufführungsverzeichnis am Ende des Buches, dass er gerade in diesen Jahren arbeitete wie der sprichwörtlich Wahnsinnige.

Die unregelmäßigen Einträge - kaum mehr als zwei oder drei im Monat - nehmen selten auf den Alltag Bezug und folgen oft einem Schema zur schriftstellerischen Selbstinspiration. Das Tagebuch als persönliche Literaturbrutstätte scheint also erfolgreich zu sein in dieser nur vom Autor selbst wahrgenommenen Schaffenskrise und Unsicherheit. Denn einer aphoristisch, manchmal absurd anmutenden Phrase ("In Goethe baden." 6. Juni 1968) folgen Ausführungen und Überlegungen, in denen Literatur in Mrożeks Sinne grundgelegt ist. Aus Gedanken werden Worte, aus Worten ein Literatenleben. "Mein Schreiben wird mir den Sinn garantieren, warum, wozu das alles [...] ein Raum, der mir wichtig erscheint und in dem ich mich selber gerne meiner Existenz versichern möchte" (3. November 1963).

Im nicht-polnischsprachigen Ausland lebt er der eigenen Zuhörerschaft enthoben, muss neue Formen finden, um sich Gehör zu verschaffen - auch politisch. Aus Protest gegen den Einmarsch polnischer Truppen in die Tschechoslowakei, gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings durch fünf Bruderstaaten des Warschauer Pakts, veröffentlicht er einen Protestbrief an die polnische Regierung, der am 27. August 1968 in der Pariser Tageszeitung "Le Monde" und in einer Emigrantenzeitschrift abgedruckt wird. Mrożek wird zur sofortigen Rückkehr nach Polen aufgefordert; daraufhin beantragt er politisches Asyl in Frankreich. Dem Antrag wird stattgegeben. In der Volksrepublik Polen wird gegen ihn ein Publikations- und Aufführungsverbot verhängt. Was eine logische Abkehr vom Heimatland und aus damaliger Sicht eine Entscheidung mit Folgen für das gesamte restliche Leben, also für immer, ist, kommentiert der Achtunddreißigjährige am 16. Oktober 1968 mit lapidarer Paradoxie: "Traurig ist der Gedanke, dass ich mein Leben lang kein anderer geworden bin als der, der ich schon immer war und den es auch damals nicht gab."

1969 ist häufig vom Tod die Rede: "Jemand, der das Leben ablehnt, verdient den Tod nicht" (24. August 1969). Das Schreiben gibt endlich Sinn im Leben, hält ihn am und im Leben. Doch seine Frau Mara stirbt am 31. Oktober 1969 in einem Berliner Krankenhaus an Krebs. Sein Schreiben im Tagebuch verlässt die Ebene des Absurden, findet sich im Hier und Jetzt der Trauer. Und endet am 27. Dezember 1969.

Sławomir Mrożek wird noch 27 Jahre in der Emigration verbringen, bevor er 1996 nach Krakau zurückkehrt. Wer bisher nur seine Satiren und Stücke gekannt hat, findet in den Texten, die die ebenso 2013 verstorbene Übersetzerin Doreen Daume kraftvoll und einfühlsam ins Deutsche übertragen hat, eine Ergänzung und Erläuterung; wer von Mrożek noch nichts gelesen hat, ein anregendes politisches und gesellschaftliches Bild eines Emigrantenlebens der 1960er -Jahre.

Eine umfassende Chronik zu Leben und Werk, ein Mittelteil mit eindrucksvollen Schwarzweißbildern und ein umfangreiches Personenregister ergänzen das Tagebuch, das durch seine antithetische Entrücktheit vom Lebensalltag oftmals wirkt, als wollte der wohl scharfzüngigste polnische Autor des zwanzigsten Jahrhunderts selbst in seine Welt und sein Werk einführen.

(Wolfgang Moser; 07/2014)


Sławomir Mrożek: "Tagebuch 1962-1969"
(Originaltitel "Dziennik tom 1 1962-1969")
Aus dem Polnischen von Doreen Daume.
Diogenes, 2014. 544 Seiten.
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Ein Stück.
Ein herrlicher Sommertag. An einem idyllischen Seeufer sind die Vorbereitungen in vollem Gange: Heute Abend ist Karneval. Der Impresario und sein hübscher Assistent begrüßen die illustren Gäste, die nach und nach eintreffen: Adam und seine Gattin Eva. Goethe, begleitet von Gretchen. Ein Bischof und Satan höchstpersönlich. Ein Jedermann namens Joe. Und eine geheimnisvolle, höchst attraktive Dame, die behauptet, Adams erste Frau zu sein. Am Abend steigt das große Fest. Unter den Masken tauschen die Gäste geistreiche Worte, Identitäten und Küsse. Denn worum geht es im Karneval sonst als um das Geheimnis der Liebe ...
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