Thomas Medicus: "Heimat"

Eine Suche


Es ist der Sohn des Journalisten und Publizisten Thomas Medicus, der die ganze Sache zunächst ins Rollen bringt. Denn der Sohn will zusammen mit seinem Vater in dessen Heimatstadt Gunzenhausen im Altmühltal fahren, um dort das Grab seines Großvaters zu besuchen, den er nur vom Hörensagen kennt.
Thomas Medicus war, seit er als junger Mann die Stadt für immer verlassen hat, nur noch wenige Male in großen Abständen und immer nur für ganz kurze Zeit dort.
"Nur ein paar Stunden", antwortet er seinem Sohn unwirsch. "Über Nacht bleiben wir auf keinen Fall."

Ob es nun am Interesse des eigenen Sohnes und seinen Fragen liegt, oder ob es Zeichen einer durch das Älterwerden geläuterten Haltung ist, wird nicht ganz deutlich. Tatsache ist, dass Thomas Medicus nach dem Gang über den Friedhof in Gunzenhausen seine Familiengeschichte und die Geschichte seiner Heimatstadt nicht mehr wegschiebt, sondern, beginnend mit dem Betrachten jahrzehntelang aufbewahrter Schwarz-Weiß-Bilder, seine Erinnerung wachruft und dann immer tiefer in die Geschichte eindringt. Er erinnert sich, wie die Großmutter den 1953 geborenen Thomas als Kind oft mit knappen Worten wie "der war auch bei der SA" oder "da wohnten Juden" auf eine dunkle und ihm unbekannte Vergangenheit hinwies, ohne dass sie das näher erläutert hätte oder die Kinder sich getraut hätten, weiterzufragen.

Thomas Medicus beginnt in den Archiven zu forschen und erzählt von einem Pogrom in Gunzenhausen, das schon im Jahr 1934 vom örtlichen SA-Chef Kurt Bär, einem engen Parteigenossen des in Franken berühmt-berüchtigten Julius Streicher, angezettelt wurde und an dem Hunderte Gunzenhausener Bürger beteiligt waren.
Thomas Medicus nennt sie alle mit Namen, die Täter und die Opfer, und schildert auch die Atmosphäre in seiner Kindheit, als über die Zeit zwischen 1933 und 1945 nicht gesprochen wurde.
Diesbezüglich wurde der 1954 geborene Rezensent, der die tatsächliche Rolle seiner Herkunftsfamilie mütterlicherseits im Dritten Reich nie erfahren hat und sich auf dringende und bohrende Nachfragen Ende der 1960er-Jahre nur mit wütendem Schweigen konfrontiert sah, über eine lange Zeit an seine eigene Kindheit und Jugend erinnert.

Irgendwann stößt Thomas Medicus bei seinen Recherchen auf die Tatsache, dass der us-amerikanische Schriftsteller J. D.Salinger nach 1945 für den us-amerikanischen Geheimdienst in Gunzenhausen gearbeitet, sicher von dem Pogrom des Jahres 1934 gehört und versucht hat, es aufzuklären.

Anschließend beginnt ein zweiter umfangreicher Teil des Buches: Thomas Medicus folgt den Lebensspuren Salingers, reist bis in die USA und besucht den einsamen Ort, an dem Salinger zurückgezogen bis zu seinem Tod lebte. Er findet viele Belege dafür, dass ein nicht unwesentlicher Teil des Buches "Der Fänger im Roggen" während Salingers Zeit in Gunzenhausen entstanden sein muss und auch davon geprägt ist, was der Autor dort an Schrecklichem erfahren musste.

In einem letzten Teil, der die aktuelle Gegenwart beschreibt, erlebt er seine "Heimat" als einen Ort, an dem eine neue Generation, durch die mutige und engagierte Arbeit vieler Personen, darunter auch Lehrerinnen und Lehrer, der nationalsozialistischen Vergangenheit und dem Schicksal der Juden der Stadt Orte und Begegnungen der Erinnerung zu geben, eine neues Interesse zeigt. Frei von Schuldgefühlen und sich dennoch ihrer Verantwortung stellend, halten sie das Bewusstsein wach, von dem, was damals geschah und worüber der junge Thomas Medicus nie sprechen durfte. Und das ist für ihn "das Ende eines heimlichen Heimwehs nach einer Heimat, deren Unheimlichkeit gebannt war. Es war ein Ende, aber auch ein Anfang."

Das Buch ist eine literarische Spurensuche und eine Annäherung an etwas, das uns lange verloren war, in einer globalisierten Welt aber für viele immer wichtiger wird: Heimat.

(Winfried Stanzick; 03/2014)


Thomas Medicus: "Heimat. Eine Suche"
Rowohlt Berlin, 2014. 285 Seiten.
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Thomas Medicus, geboren 1953 in Gunzenhausen, studierte Germanistik, Politikwissenschaften und Kunstgeschichte. Nach seiner Promotion schrieb er u. A. für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", war Feuilletonredakteur des Berliner "Tagesspiegel" sowie stellvertretender Feuilletonchef der "Frankfurter Rundschau". Thomas Medicus lebt als freier Publizist in Berlin und in Dolgie/Polen. Zuletzt erschien von ihm "Melitta von Stauffenberg. Ein deutsches Leben" (2012):

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