Karl Ove Knausgård: "Leben"
Wenn der
Schüler zum Lehrer wird ...
Karl Ove Knausgårds in sechs Teilen episch angelegter, autobiografischer
Romanzyklus hat mittlerweile fast Kultstatus erreicht. In mehr als
dreißig Sprachen übersetzt, warten Leser überall auf dieser Welt
geduldig auf das Erscheinen des jeweils nächsten Teils.
Nach dem ersten Teil "Sterben",
in dem Knausgård auf bittere und erlösende Art und Weise mit dem soeben
verstorbenen Vater abrechnet, folgte "Lieben",
eine selbstzerfleischende Auseinandersetzung des Autors mit sich selbst
in den Rollen Ehemann und Vater. Im dritten Teil "Spielen"
ging Karl Ove Knausgård dann allerdings wieder ganz an den Anfang
zurück. Der jetzt vorliegende Band "Leben" befasst sich mit der Zeit
nach der Schule.
Nun hat Karl Ove Knausgård die Schule hinter sich gebracht, die Eltern
sind geschieden, und "Leben" beginnt mit der Reise des Autors in den
Norden, um dort in Hafjord an der Schule als Aushilfslehrer ein Jahr
lang zu unterrichten.
Um dem akuten Lehrermangel im Norden entgegen zu wirken, erlaubt man das
Unterrichten auch ohne Lehrerausbildung.
Ein achtzehn Jahre alter Kerl aus Kristiansand, der gerade das Gymnasium
beendet hatte, gerade von zu Hause ausgezogen war, ohne jede Erfahrung
im Arbeitsleben, außer einigen Abenden und Wochenenden in einer
Papierfabrik, ein bisschen Journalismus in der Lokalzeitung und einer
soeben beendeten einmonatigen Sommertätigkeit in einem psychiatrischen
Krankenhaus, sollte Klassenlehrer an der Schule von Hafjord werden.
"Nein, schlafen konnte ich nicht.
Was würden die Schüler von mir halten?"
Bedingt durch die Übersiedlung und die Eingewöhnung in Hafjord entsteht
der Eindruck von vergleichsweise fast rasantem Erzählen, was dem Text
sehr gut tut. So ist man bereits fest in Knausgårds Hand, wenn er, durch
Situationen in Hafjord angeregt, wieder in seinen persönlichen Kampf mit
den Erinnerungen verfällt und, wie bereits in den Vorgängerbänden,
Vorfälle mit dem Vater, der Mutter, dem Bruder und den Freunden in
akribischer Detailliertheit seziert.
Dadurch entsteht im Text so etwas wie eine frappierende Entschleunigung,
die, obwohl sie sich in geradezu peinlich alltäglichen Geschehnissen
festbohrt, eben deshalb so beeindruckend faszinierend ist. Als Leser,
noch dazu als einer, der von diesem Text äußerst fasziniert ist,
fragt man sich: Aber wie nur, wie schafft es dieser Knausgård, Spannung
zu halten (natürlich nicht im herkömmlichen Sinne)? Karl Ove Knausgård
(oder sein autobiografisches Double) steht für jeden von uns. Der
Protagonist dieser Bücher ist in gewisser Weise ein Jedermann, der mit
seiner Rolle in unserer Zeit leben lernen muss. Die Mittelstandsfamilie,
aus der er stammt, zerbricht, und Karl Ove ist ein typischer
Jugendlicher, der an nichts Anderes denkt, als sich zu besaufen und
seine Jungfräulichkeit zu verlieren.
Seitenlange Beschreibungen eines Schwimmbadbesuchs, eines Saunagangs,
oder ebenso von Saufgelagen oder den erotischen Regungen, die fast alle
Mädchen und Frauen in der Umgebung des jungen Knausgård in Bezug auf ihn
haben, die Detailversessenheit ist verblüffend.
Nichts wird ausgespart, nichts wird beschönigt, nichts wird
verschwiegen: Indiskret breitet sich Knausgård nicht nur über sich
selbst und seine unschönen, peinlichen und pathetischen Seiten, sondern
auch über seine Familienmitglieder aus.
"Vater wurde lockerer, seine Ausstrahlung in diesem Zimmer war groß,
ja enorm. Man beachtete ihn, man sah ihn an. Aber es lag keine
Herzlichkeit in diesen Blicken. Er trug zu dick auf, er war zu laut,
er unterbrach die Leute an den unpassendsten Stellen, fing ohne Grund
an zu lachen, redete dummes Zeug, hörte nicht zu."
Der neben den Erinnerungen wichtigste Erzählfaden in "Leben" ist
allerdings die hormonell gesteuerte Gier des Karl Ove, doch endlich sein
Erstes Mal zu erleben. Dabei faszinieren ihn sogar seine nur wenige
Jahre jüngeren Schülerinnen und Lehrerkolleginnen. Diverse Versuche
scheitern an seiner extrem vorzeitigen Ejakulation, die in diesem Band
einen relativ wichtigen Punkt darstellt. Eine Sache, die ebenso Teil des
inneren Kampfes des Protagonisten ist. Dazwischen essayistische
Einschübe über die Frage der autobiografischen Erzählung und die Rolle
des Kunstwerks in der Betrachtungsperspektive. Das alles, eingebunden in
die Offenlegung der Nöte, Unsicherheiten, immer häufiger werdenden
Alkoholexzesse und andere Probleme des jungen Schriftstellers, erzeugt
einen ständig kreisenden Erzählfluss, der den Eindruck erweckt, ein
improvisiertes Kontinuum zu sein, das ständigen Variationen unterworfen
werden muss, um zur Essenz, zur Klärung und zur Erlösung zu führen.
"Sie war groß und schlank, ihre Hüften hatten einen feinen Schwung,
sie hatte kleine Füße und eine kleine, kindliche Nase, aber trotzdem
hatte sie nichts von diesem gekünstelten Liebreiz an sich, sie war
niemand, den man beschützen wollte, niemand, um den man sich kümmern
musste, und dieses Starke und gleichzeitig auch Kalte war vermutlich
das Unwiderstehlichste an ihr."
Und so kommt es, wie es im Regelfall immer kommt: Der bereits krankhaft
liebeskranke Jugendliche trifft auf den Menschen, mit dem es zumindest
vorerst einmal klappen wird. Auf die Person, die hilft, die Ängste und
Unsicherheiten abzuschütteln, die hilft, in sich Stärke zu finden und
den Weg vom Pubertierenden zum Erwachsenen leichter zu gehen.
Wieder einmal großartig übersetzt, diesmal von
Ulrich Sonnenberg, ist es eine große Freude, dem Leben des jungen
Karl Ove zu folgen. Eine noch größere Freude entsteht dadurch auf den
nächsten und dann bereits vorletzten Band, der hoffentlich bald
erscheinen wird.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 07/2014)
Karl Ove Knausgård: "Leben"
(Originaltitel "Min Kamp IV")
Aus dem Norwegischen von Ulrich Sonnenberg.
Luchterhand Literaturverlag, 2014. 618 Seiten.
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