Corrado Augias: "Die Geheimnisse Italiens"
Roman einer Nation
Literarische
Landvermessungen
Was ist Italien?
Das Land zwischen Adria, Tyrrhenischem und Ionischem Meer, dazu ein paar
Inseln und Gebiete im Norden bis zum Südrand der Alpen? Oder einfach das
Gebiet, in dessen Grenzen bis 2001 mit Lire bezahlt wurde und wo
italienische Gesetze gelten - oder zumindest gelten sollten?
Corrado Augias ist wohl auch geografisch und juristisch gebildet, aber
kein Geograf und kein Verfassungsrechtler. Der 79-jährige italienische
Kulturjournalist und Schriftsteller stellt diese im ersten Augenschein
einfache Frage nicht nur für dieses, sein Heimatland. Seine
Fragestellung weist auf die Bedeutung von Kultur- und vor allem
Literaturgeschichte zum Werden und Sein einer Nation hin. Seinen
vielgestaltigen Antworten ist die Überzeugung vorangestellt, dass ein
Land und eine Nation vor allem durch die Kultur zu dem wurden, was sie
sind. Das ist der Inhalt des Buches über hunderte andere Bücher, Filme
und Kunstwerke. Es ist ein literarisches Sachbuch. Es erzählt wie ein
Roman und von Romanen, aber ist - dem Untertitel zum Trotz - dennoch
keiner.
"Literatur ist das Kondensat der Geschichte" (Seite 39) ist ein
Axiom des Buches, das den lesenden Blick auf jene klassischen Werke
lenkt, die etwas zum Italienischsein beigetragen haben oder aus der
Sicht späterer Leser über die Bilder des südlichen Nachbarlandes
preisgeben.
Die italienische Literatur und teils auch Werke, die wir zu Klassikern
der Weltliteratur zählen, z.B. William
Shakespeares Komödien ("The Merchant of Venice",
"The Two Gentlemen of Verona"), Lord Byron, Johann Wolfgang von Goethes
"Italienische Reise", Stendhals "Kartause
von Parma" und Thomas Mann, vermitteln Bilder von italienischen
Menschen, die sich bis heute - per male - im zwielichtigen
Silvio Berlusconi und - per bene - im zum Erscheinungstermin der
italienischen Erstausgabe populären Romano Prodi, Präsident der
Europäischen Kommission von 1999 bis 2004, zweifacher Ministerpräsident
Italiens 1996 bis 1998 und 2006 bis 2008 im Wechsel zum mittlerweile
verurteilten Cavaliere, fortsetzen.
Ein steter Blick auf Vorgänge der italienischen Politik seit 1945 (z.B.
der Spekulationsskandal des norditalienischen Milchriesen "Parmalat"
2003 - im Gegensatz zu Parma, dem mythischen Ort des Geistes bei
Stendhal) wird stets in Bezug zu Literatur, Theater und Film gesetzt.
Das außerliterarische Geschehen verfestigt sich im Kunstwerk - das
Kunstwerk ist der Schlüssel zur Geschichte.
Dabei holt der umfassend historisch und philologisch gebildete Römer
auch bis in die Antike aus und zitiert Vergils "Aeneis"
selbstverständlich in lateinischer Sprache. (Keine Angst: alle Texte,
auch jene in Anmerkungen, wurden auch ins Deutsche übersetzt.) Zahllose
Werke der italienischen Literatur - meist des neunzehnten und
zwanzigsten Jahrhunderts - skizziert er spannend, eindrücklich und mit
Blick auf das Wesentliche. Wer hätte sonst bei uns Anlass und
Gelegenheit, die überladene Wortgewalt, den schwülstigen Ästhetizismus
in "Il Piacere" (dt. "Lust", 1889) des national-romantisierenden
Haudrauf Gabriele D'Annunzio (1863-1938) zu lesen? Per male.
Oder - per bene - den in Italien zum staatstragenden
Erfolgstitel gewordenen
Jugendroman "Cuore" ("Herz", 1886) von Edmondo De Amicis (1846-1908),
dessen Schulklasse mit Kindern aus ganz Italien zu einem nur scheinbar
naiven Symbol für das Risorgimento, die nationale Wiedergeburt aus
zahlreichen Kleinstaaten, wurde?
Doch so wie das kulturelle Gefälle zwischen den Schülern aus Piemont und
Kalabrien, zwischen dem blaublütigen Knaben Carlo Nobis und dem
Subproletarier Franti auf der Schule lastet, dem das Schulsystem der
jungen Nation bis heute nicht zu begegnen weiß, bleibt das Land in
seinen nach Norden bis in die 1950er-Jahre unsicheren Grenzen (Istrien!)
Pasticcio, Flickwerk.
Das Gros des Buches erzählt von den Regionen, von ihrem Eigenleben in
Politik, Gesellschaft und deren jeweiligen Kondensaten, der Literatur:
von Rom, dem Sehnsuchtsort, der erst und gegen den Willen der Kirche zur
Hauptstadt wachsen und reifen musste, der città misteriosa
Palermo und dem teuflischen Paradies Neapel im Süden. Die Mitte mit
Umbrien und der kulturellen Tradition von Florenz in der Toskana
sowie Parma, Venedig und Padua im Norden haben je eigene Kapitel. Die
Regionen schildern in konzentrischen und sich überlappenden
Erzählkreisen und Erzählreisen eine bild- und wortreiche Vergangenheit,
- per bene e male - eine ambivalente Gegenwart und eine
mutmaßliche Zukunft.
Die Methode des assoziativen Erzählens, das sich durch Urteil und
Vorurteil ziehende Prinzip von These und Antithese, zeigen Italien als
Pluralität eines Landes, machen neugierig auf eigene literarische
Landvermessungen, auch in Übersetzung, sofern die zitierten Werke
überhaupt in deutscher Sprache erhältlich sind ...
Die Sammlung dieser literarischen Stoffe ist für die meisten
Deutschsprachigen wohl neu, weil nicht im Kanon der klassischen
Schullektüre. Doch durch Corrado Augias' Erzähltalent ist diese
Literaturgeschichte von den Geheimnissen Italiens wie sie sein soll:
engagiert, leicht zugänglich und schlüssig für das Europa von Heute.
Landvermessungen für die Literaturen anderer Länder des Kontinents
sollten sich am greisen, aber nicht senilen, gebildeten, aber nicht
dozierenden, vielschichtig, aber nicht widersprüchlich denkenden
Europaabgeordneten von 1994 bis 1999, ein Vorbild nehmen.
(Wolfgang Moser; 05/2014)
Corrado Augias: "Die Geheimnisse Italiens.
Roman einer Nation"
Aus dem Italienischen von Sabine Heymann.
C.H. Beck, 2014. 272 Seiten mit 16 Abbildungen.
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Ein weiteres
Buch des Autors:
"Die Geheimnisse des Vatikan. Eine andere Geschichte der Papststadt"
Corrado Augias versteht es meisterhaft, ungewöhnliche und überraschende
Geschichten aus dem Vatikan
lebendig zu erzählen und mit scheinbar nebensächlichen Entdeckungen zu
einem faszinierenden Panorama der zweitausendjährigen Geschichte des
päpstlichen Rom zu verweben. Ein Lesevergnügen auf höchstem Niveau.
(C.H. Beck)
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Weitere
Buchtipps:
David Gilmour: "Auf der Suche nach Italien. Eine Geschichte der
Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart"
Elegant und kenntnisreich führt David Gilmour seine Leser durch die
Geschichte der Halbinsel. Er reichert seine Darstellung mit prächtigen
Anekdoten, sinnlichen Eindrücken und interessanten Gesprächen an.
Gilmour zeigt, dass die Pracht Italiens immer in seinen Regionen mit
ihrer je eigenen Kunst, städtischen Kultur, Identität und Küche gelegen
ist. Die Regionen brachten die mittelalterlichen Städte und die
Renaissance, die Republik Venedig
und das Großherzogtum Toskana hervor, die beiden kultiviertesten Staaten
der europäischen Geschichte. Dieses fesselnde Buch erklärt die
italienische Geschichte so klug und stimmig, dass jeder Italienliebhaber
seine Freude daran haben muss. Ein wahres Lesevergnügen, voll
ausgewählter Geschichten und Beobachtungen aus persönlicher Erfahrung
und bevölkert mit großen Gestalten der Vergangenheit: von Cicero
und Vergil bis zu
Dante und den
Medici,
von Cavour und Verdi
bis zu den umstrittenen politischen Figuren des 20. Jahrhunderts. Das
Buch wirft einen klarsichtigen Blick auf das Risorgimento. Es entzaubert
die Mythen, die sich darum ranken. (Klett-Cotta)
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Peter
Gendolla: "Die Erfindung Italiens. Reiseerfahrung und Imagination"
Das Italien
der Literatur ist eine Erfindung, ein Mythos, dessen Intensität die
Gegenwart des Landes noch übersteigern soll, nichts als eine "wunderliche
Fiktion", wie der "grüne Heinrich" Gottfried Kellers einmal sagt.
Wohl kein anderes Land ist in der deutschen Literatur häufiger
beschrieben worden als Italien. Ausgehend von der Geschichte der
tatsächlichen Italienreisen - von den Pilgerfahrten und Kavalierstouren
der Frühen Neuzeit bis zu den Reisen der Schriftsteller im 20.
Jahrhundert - stellt das Buch diesen Erfahrungen die Imaginationen,
Phantome, Wunsch- oder Zerrbilder zur Seite, welche die Literatur vom
südlichen Land zeichnet. Dabei werden keineswegs nur ungebrochene
Erfahrungen erzählt, geht es aus dem Arkadien Goethes über den Tod in
Venedig oder Rom bei Mann und Koeppen
in die Ruinen, den Dreck und Zerfall, der sich Brinkmann in der ewigen
Stadt bietet. Von den Erzählungen in Reisetagebüchern und Romanen bis zu
den mobilen Bilderströmen der neuen Medien werden die idealen wie die
destruktiven Imaginationen immer effizienter transformierbar, die
audiovisuellen Technologien schließlich lassen Arkadien erleben, ohne
dass man einen Fuß dorthin bewegen müsste. (Wilhelm Fink)
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Frank Jung,
Thomas Kroll (Hrsg.): "Italien in Europa. Die Zirkulation der Ideen im
Zeitalter der Aufklärung"
Italien war das Experimentierfeld für aufklärerische Ideen im Europa des
18. Jahrhunderts. Die Rezeption italienischer Ideen, Reformen und
Revolutionen hat in der Vorstellungswelt der europäischen Aufklärer
tiefe Spuren hinterlassen.
Während die Korsische Revolution die Frage aufwarf, ob Widerstand gegen
eine tyrannische Herrschaft zulässig sei, traten radikale Aufklärer wie
Giannone, aber ebenso Pilati, für eine strikte Trennung von Staat und
Kirche ein. Beccaria forderte erstmals die Abschaffung der Todesstrafe,
und infolge der unter Großherzog Peter Leopold durchgeführten Reformen
galt die Toskana als "Modellstaat".
Mit Beiträgen von Jean Boutier, Christof Dipper, Jonathan I. Israel,
Frank Jung, Thomas Kroll, Serena Luzzi, Renato Pasta, Giuseppe
Ricuperati, Wolfgang Rother, Antonio Trampus, Marcello Verga. (Wilhelm
Fink)
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Italo
Calvino: "Italienische Märchen"
In den 1950er-Jahren begann Italo Calvino italienische Märchen zu
sammeln. Aus allen Regionen Italiens, von Ligurien bis Venetien, von der
Emilia bis Sizilien. Viele dieser Märchen hat Calvino erstmals aus dem
Dialekt ins Italienische übertragen: anmutig und schlicht. Der
vorliegende Band besticht durch den Reichtum an Fantasie, die
Vielgestaltigkeit und die Originalität einer Welt, in der das Wunderbare
gleich immer hinter der nächsten Ecke lauert. (Fischer)
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Valeria
Vairo: "Profumo d'Italia. Ein Hauch Italien"
Genügend Italienerin, um mit den Gewohnheiten ihrer Landsleute vertraut
zu sein, ausreichend "Ausländerin", um Mängel, Widersprüchlichkeiten und
Übertreibungen zu erkennen und darüber lachen zu können: Valeria Vairo
lebt in Deutschland, sie hat erfahren, dass Distanz den Blick schärft.
Mit leicht gespitzter Feder erzählt sie kleine Geschichten aus dem
Alltag, in denen es um Familie und Rituale, Frauen und Männer, Religion
und Aberglaube geht. Entstanden ist ein subjektives Porträt der
italienischen Gesellschaft, in dem man einige liebgewonnene Stereotype,
aber zugleich viel Überraschendes finden kann. Doch in dem bisweilen
chaotischen, aber häufig überaus kreativen Umgang mit den
Herausforderungen des Alltags zeigt sich auch der ganze Charme
italienischer Lebenskunst. (dtv zweisprachig)
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Leseprobe:
Italien ist ein Land, das aus Städten besteht. Großen und kleinen,
ruhmreichen und berüchtigten, die aber alle unsere Aufmerksamkeit
verdienen, vor allem wegen der geballten Ladung an Vergangenheit, die
sie bewahren; manch einer spricht sogar von einem Übermaß an
Vergangenheit. Wenn man Frankreich
Paris wegnimmt und Großbritannien London, bleibt nicht allzu viel übrig.
Wenn man Italien dagegen Rom wegnimmt, bleibt noch ziemlich viel.
Deshalb sind in diesem Roman einer ganzen Nation die hundert Romane
ihrer hundert Städte enthalten, Romane nicht nur als Metapher, sondern
im eigentlichen Sinne, also die durch Geschichten und Figuren der
Literatur erzählten Geschichten.
Dieses Buch beginnt mit den Italienern, von außen besehen: mit den Augen
der ausländischen Reisenden. Gleich darauf werden die Italiener von
innen besehen: durch die Brille zweier Ausnahme-Bücher, Romane, deren
Helden das kollektive Bewusstsein der Italiener nachhaltig geprägt
haben. Sind das Geschichtsbücher? Im engeren Sinne nicht; vielleicht
sind sie aber noch wichtiger, denn die Romanfiguren sind Archetypen der
Italiener, deren Nachfahren sich bis in unsere Tage unter uns tummeln,
man kann ihnen jeden Tag irgendwo begegnen, im Bus oder in den
Zeitungsnachrichten.
Über Rom und Mailand, die beiden Hauptstädte, ist viel geschrieben
worden. Es ist also nicht ganz einfach, einen Zugang zu finden, der
nicht bereits ausführlich unter die Lupe genommen wurde. Aber nicht
unmöglich. Die großen Städte sind riesige Geschichten-Archive, Orte, wo
selbst die Mauern sprechen. Über Rom wird Giacomo Leopardi erzählen. Wie
er diese Stadt sah, als er dort auf dem weitläufigen, heruntergekommenen
Anwesen der Verwandtschaft seiner Mutter zu Gast war, in den traurigen
Jahren der Restauration, als das Papsttum nach den Revolutionen am Ende
des 18. Jahrhunderts gerade wieder Atem geschöpft hatte und ein Dichter
wie Giuseppe Gioachino Belli, der große Spötter und Lästerer, sich als
päpstlicher Zensor verdingen musste, um sein Leben zu fristen. Mailand
dagegen wird uns aus einer Perspektive gezeigt, die marginal erscheinen
mag, es aber nicht ist, in einer Momentaufnahme der Zeit direkt nach
1945, als es die Mailänder und ganz allgemein die Italiener schafften,
aus Trauer und Ruinen heraus einen Boom in Gang zu setzen, der die
Physiognomie Italiens grundlegend verändern sollte - und ein wenig auch
den Charakter des Landes. Die Energie, die Visionen dieser Jahre wirken
im Lichte der dumpfen Mittelmäßigkeit, der Kurzsichtigkeit und
Resignation zu Beginn dieses 21. Jahrhunderts schier unglaublich. Es hat
sie aber gegeben, sowohl die Energie als auch die Visionen. Mit
verschlissenen Kleidern am Leib und abgemagert bis auf die Knochen ist
es den Italienern gelungen, alles gleichzeitig wiederaufzubauen: die
Häuser, die Fabriken, die Kultur und die Zivilgesellschaft mit dem
Wunder der Verfassung.
Dann ist da das weite, ganz Unteritalien umfassende Gebiet, das einmal
Königreich beider Sizilien hieß, bis zur
Einigung Italiens der größte und zugleich ärmste Teilstaat, aus
dem nach 1861 der Mezzogiorno wurde. In dem Kapitel über den Süden stößt
der Leser möglicherweise auf einige echte Überraschungen. Wenn er zum
Beispiel die Berichte und Ergebnisse der parlamentarischen
Untersuchungen kurz nach der Einheit Italiens liest, als die in den
Süden versetzten Piemonteser Beamten und Funktionäre unverhohlen ihre
Besorgnis darüber zum Ausdruck brachten, welcher Einsatz und welcher
Aufwand an Ressourcen erforderlich wären, um die katastrophalen Zustände
in der Region zu beheben - ein Fass ohne Boden. Im Jahre 2011 sind
anlässlich der 150-Jahr-Feier der nationalen Einheit Italiens einige
Publikationen erschienen, die die Geschichte des Risorgimento aus der
Perspektive des Südens neu erzählt haben. (...)