Erich Hackl: "Drei tränenlose Geschichten"
Bei einem renommierten und
gleichermaßen sein Fach beherrschenden Autor wie Erich Hackl fällt es
schwer, ein Haar in der Suppe zu finden. Somit lasse ich es auch
bleiben. Die Qualität der Geschichten, die er uns präsentiert, liegt in
der stets verborgenen Wirklichkeit. Seine Protagonisten haben gelebt,
geliebt, gehasst, meist weniger begangene Pfade durchschritten. Jeder
Mensch hat seine unverwechselbare Einzigartigkeit, bewegt sich in seinem
eigenen Universum. Erich Hackl orientiert sich an Fotos, recherchiert
dann akribisch, findet Verbindungsstränge, an denen sich die Geschichte
hinter der Geschichte ermessen lässt.
Erich Hackl bleibt sich treu, spürt Schicksale auf, schickt den Leser
auf Entdeckungsreise. So auch bei diesen drei Geschichten. Zwei davon
wurden bereits vor wenigen Jahren in einer Anthologie sowie der
Literaturbeilage einer Zeitung veröffentlicht. Es handelt sich hierbei
um "Der Fotograf von Auschwitz" und "Tschofenigweg. Legende dazu".
Wilhelm Brasse hat mit den Fotografien, die er im Laufe von vier Jahren
im KZ Auschwitz gemacht hat, eine so sicher nicht gewollte "Berühmtheit"
erlangt. Seine Fotos sind rund um die Welt gegangen, besonders bekannt
ist jenes von den vier angesichts ihrer körperlichen Verfassung dem Tode
nahen dreizehnjährigen Mädchen. Dieses und 40.000 bis 50.000 weitere
hätten dem Feuer überantwortet werden sollen. Doch die Negative waren
sehr widerstandsfähig, und nachdem die den Befehl aussprechende Person
den Raum verlassen hatte, entriss Wilhelm Brasse die Filme dem Feuer,
ließ dann Wasser über sie laufen.
Der glückliche Umstand dieser Widerstandsfähigkeit und der schnellen
Reaktion von Wilhelm Brasse ist es zu verdanken, dass diese unschätzbar
wichtigen Dokumente erhalten geblieben sind. Nach seiner Befreiung aus
dem KZ konnte Wilhelm Brasse nicht mehr als Fotograf arbeiten. Zu
stark verfolgten ihn die Bilder und die Erinnerung. Er führte hernach
ein unauffälliges Leben. Wenige Jahre vor seinem Tod gestaltete der
polnische Dokumentarist Irek Dobrowolski einen Film über Wilhelm Brasse,
der im polnischen Fernsehen und an Filmtagen im Ausland gezeigt wurde.
"Der Fotograf von Auschwitz" wuchs gleich in der Nähe von Auschwitz, in
Zywiec auf, und kehrte nach dem Krieg auch wieder dorthin zurück.
Die Geschichte von Gisela und Pepe Tschofenig ist eine Geschichte der
Unfassbarkeiten. Tatsächlich gibt es seit 2006 einen Tschofenigweg im
Gedenken an die 1945 von den Nazis erschossene Gisela Tschofenig. Als
Widerstandskämpferin hat sie bis kurz vor dem Kriegsende unendlich viel
Leid erlebt, um schließlich in Schörgenhub auf dem Gelände eines
ehemaligen sogenannten Arbeitserziehungslagers wohl noch lebendig
verscharrt zu werden. Sie hatte Pepe in Dachau heiraten dürfen. Wohl
eine einmalige Angelegenheit, ähnlich wie die ebenfalls von Erich Hackl
dokumentierte "Hochzeit von Auschwitz". Gisela Tschofenig wurde nur 28
Jahre alt. Ihr Mann Pepe überlebte Dachau, heiratete später nochmals,
wurde aber laut Überlieferung nicht glücklich dabei. Er lebte
zurückgezogen, sprach wenig, nur selten muss ein Lächeln seine Lippen
umspielt haben.
Die bislang einzig unveröffentlichte Geschichte dieses Buches ist jene
der Familie Klagsbrunn. Es ist weitgehend eine Geschichte des Exils. Ein
Hauptteil spielt sich in Brasilien ab, wo die Repressalien für
"revolutionäre Zellen" grauenvolle Ausmaße hatten, über die selbst der
Erzähler der Geschichte lieber kein Wort zu viel verlieren will.
Die Tränenlosigkeit der Geschichten findet zwischendurch Erwähnung. Wie
dies zu interpretieren ist, bleibt dem Leser vorbehalten. Erich Hackl
verweist an manchen Stellen auch auf andere Geschichten, die er
geschrieben hat. Dies gibt der Vermutung Nahrung, dass er im Grunde eine
große Geschichte schreibt, die sich in alle möglichen Richtungen hin
verzweigt und schließlich eine Weltkarte dramatischer menschlicher
Schicksale abbildet. Schicksale, von denen erzählt werden muss, weil sie
eine Welt zeigen, die Bestien und stille Helden hervorbrachte.
(Jürgen Heimlich; 05/2014)
Erich
Hackl: "Drei tränenlose Geschichten"
Diogenes, 2014. 160 Seiten.
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Weitere Lektüretipps:
Luca Crippa, Maurizio Onnis: "Wilhelm Brasse. Der Fotograf von
Auschwitz"
Fast alle bekannten Auschwitz-Fotos stammen von Wilhelm Brasse. Wer ist
dieser Mann, der für die Lagerleitung das Grauen fotografieren musste?
1940 wird Wilhelm Brasse, Sohn eines Österreichers und einer Polin, nach
Auschwitz deportiert. In drei Monaten wird er tot sein, sagt man ihm.
Als die Lagerleitung hört, dass er eine Ausbildung als Fotograf
absolviert hat, lässt sie ihn im sogenannten Erkennungsdienst in Block
26 arbeiten. Angebote, sich der Wehrmacht anzuschließen, weist er
zurück. In den nächsten Jahren muss er etwa 50.000 Fotos von Häftlingen
machen. Entgegen den Anordnungen der Lagerleitung versucht Wilhelm
Brasse ihnen Respekt und Mitgefühl zu zeigen und retuschiert oft
aufwändig die Porträts. Zugleich versucht er sich mit seiner Arbeit, die
ihm gewisse Privilegien verschafft, von dem Grauen ringsum abzuschotten.
Vergeblich, denn bald muss er auch die barbarischen Versuche der
Lagerärzte an Zwillingen und Frauen dokumentieren. Er schmuggelt Fotos
hinaus und hat am Ende nur noch ein Ziel: die Vernichtung dieser
Aufnahmen durch die fluchtbereiten SS-Männer zu verhindern.
Dieses Buch erzählt erstmals ausführlich Wilhelm Brasses Geschichte -
die Geschichte eines Mannes, der überleben wollte, ohne sich gänzlich
dem Terror anzupassen. (Blessing)
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Anthony Doerr: "Alles
Licht, das wir nicht sehen"
Saint-Malo 1944: Marie-Laure, ein junges, blindes Mädchen, ist mit
seinem Vater, der am "Muséum National d’Histoire Naturelle" arbeitet,
aus dem besetzten Paris zum kauzigen Onkel in die Stadt am Meer
geflohen. Einst hatte er ihr ein Modell der Pariser Nachbarschaft
gebastelt, damit sie sich besser zurechtfinden kann. Nun ist in einem
Modell der Hauptstadt, das er in Saint-Malo gebaut hat, der vielleicht
kostbarste Schatz aus dem Museum versteckt, den auch die Nazis jagen.
Werner Hausner, ein schmächtiger Waisenjunge aus dem Ruhrgebiet, wird
wegen seiner technischen Begabung gefördert, auf eine Napola geschickt
und dann in eine Wehrmachtseinheit gesteckt, die mit Peilgeräten
Feindsender aufspürt, über die sich der Widerstand organisiert. Während
Marie-Laures Vater von den Deutschen verschleppt und verhört wird,
dringt Werners Einheit nach Saint-Malo vor, auf der Suche nach dem
Sender, über den Etienne, Marie-Laures Onkel, die Résistance
mit Daten versorgt ...
Kunstvoll und spannend, mit einer wunderschönen Sprache und einem
detaillierten Wissen um die Kriegsereignisse, den Einsatz des Radios,
Widerstandscodes, Jules
Verne und vieles Andere erzählt Anthony Doerr mit einer Reihe
unvergesslicher Figuren eine Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg, und
vor allem die Geschichte von Marie-Laure und Werner, zwei Jugendlichen,
deren Lebenswege sich für einen folgenreichen Augenblick kreuzen. (C.H.
Beck)
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Carla Montero: "Das
Mädchen mit den Smaragdaugen"
Als der Kunsthistorikerin Ana García Brest ein alter Brief in die Hände
fällt, ahnt sie nicht, dass er sie auf die Spur eines sensationellen
Kunstfundes führen wird - und zur Geschichte einer unglaublichen Liebe.
Frankreich, 1942. Die junge Sarah Bauer entkommt als Einzige der
Deportation ihrer Familie. Auf ihrer Flucht trägt sie einen Mantel, der
ein geheimnisumwobenes Bild verbirgt. Dabei handelt es sich um jenes
Gemälde, das SS-Sturmbannführer Georg von Bergheim um jeden Preis in
seinen Besitz bringen soll. Er ist Sarahs größter Feind - und bald ihre
einzige Rettung. (Blanvalet)
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Felix Hartlaub: "Aus
Hitlers Berlin - 1934 bis 1938"
Mit Zeichnungen des Autors Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen
von Nikola Herweg und Harald Tausch.
Nicht erst in seinen "Kriegsaufzeichnungen aus Paris" notiert Felix
Hartlaub lakonisch, welche Deformationen des Lebens der
Nationalsozialismus im Gefolge hatte. Bereits als Student in "Hitlers
Berlin", in den Jahren 1934 bis 1938, bildete er seine Meisterschaft
darin aus, an unscheinbaren Szenen
des täglichen Lebens aufzuzeigen, wie nichts mehr ist, wie es war.
Seine literarischen Skizzen, zunächst nur für die Schublade gedacht,
verdichten das Gesehene zu einer melancholischen Beschreibung der neuen
Ordnungen, die das Leben der Hauptstadt überformen und erstarren lassen.
Weniger melancholisch, vielmehr bissig geht Hartlaub seine Umgebung mit
dem Zeichenstift an: Seine Zeichnungen - für den Freundeskreis und die
Familie geschaffen - überspitzen, was sich ihm aufdrängt.
Die Literaturwissenschaftler Nikola Herweg und Harald Tausch edieren
Hartlaubs Texte und Zeichnungen aus dem Marbacher Nachlass. (Bibliothek
Suhrkamp)
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Keith Lowe: "Der wilde
Kontinent. Europa in den Jahren der Anarchie 1943-1950"
Zusammenbruch, Rechtlosigkeit, Anarchie: Mit der deutschen Kapitulation
war das Töten noch nicht beendet. Zum ersten Mal macht Keith Lowe das
ganz Europa umfassende Ausmaß der materiellen und moralischen
Verwüstungen deutlich: die ergreifende Darstellung einer Welt, die aus
den Fugen geraten war.
Eindrucksvoll beschreibt Keith Lowe in seinem international viel
beachteten Buch den Abstieg eines ganzen Kontinents in die Anarchie.
Dabei zeigt er die Gewalteruption des Zweiten Weltkrieges als ein
komplexes Geschehen über die sogenannte Stunde Null hinaus. Im Zentrum
seiner ausgewogenen Neudarstellung der Nachkriegszeit stehen die vielen
auf dem Kontinent aufflammenden regionalen Konflikte, die auch noch nach
den klassischen Kriegshandlungen stattfanden: Bürgerkriege wüteten,
ethnische Spannungen und Säuberungen dauerten an, Juden und Minderheiten
wurden weiterhin verfolgt. Der Krieg hatte - trotz Hitlers Niederlage -
eine Gewaltdynamik entfacht, die sich nicht mit der Kapitulation stoppen
ließ. Zugleich lässt der Autor die Menschen und die einzelnen Schicksale
in den betroffenen Ländern sichtbar werden. Eine unerlässliche Lektüre
für ein tieferes Verständnis der Schreckensgeschichte Europas.
(Klett-Cotta)
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