Lena Gorelik: "Die Listensammlerin"
Etwa zu gleichen Teilen im
heutigen Deutschland und im Moskau der späten Fünfziger und Sechziger
Jahre spielt Lena Goreliks Roman. Das Gegenwärtige wird uns von einer
Ich-Erzählerin, wohl dem alter ego der Autorin, berichtet: Sofia
(benannt nach Sofia
Andrejewna Tolstaja), leidenschaftliche Erstellerin von Listen wie
"die schönsten Männerhände", "Was ich von meinem Vater weiß" und
dergleichen, in ihrer Jugend aus der Sowjetunion nach Deutschland
ausgewandert, ist das dritte Glied einer viergliedrigen Kette von
Frauen, Müttern und Töchtern. Die Jüngste, noch ein Kleinkind, Tochter
Sofias, ständiger Quell ihrer Sorge und Anlass eines gewissen
Sichgehenlassens, hat bereits in Deutschland das Licht der Welt
erblickt, ist mit einem zu schwachen Herzen ausgestattet, weswegen sie
schon wiederholt operiert werden musste. Zu dieser Hauptsorge gesellt
sich zusehends die zunehmende Demenz der im Altersheim befindlichen
hochbetagten Großmutter Sofias. Als Sofia, nachdem klar wird, dass die
Großmutter nicht in ihre Wohnung zurück wird können, den Auftrag erhält,
deren Schränke leerzuräumen, stößt sie auf manches aus der
Familienvergangenheit, das sie neugierig macht und sich wieder mit ihrer
Herkunft beschäftigen lässt, alte Hefte, in denen die Großmutter
ähnliche Listen erstellt hat wie sie selbst, und vor allem auf einen ihr
bislang mit Erfolg verschwiegenen Onkel, einen Bruder ihrer Mutter.
Dieser ominöse Onkel Grischa ist die zweite Hauptfigur des Romans.
Kapitel, die von seinem Werdegang in der dritten Person handeln,
wechseln sich immer mit solchen der Erzählerin ab, bis sich gegen Ende
des Buches die beiden Handlungsstränge verknoten, wenn Mutter (die
Schwester Grischas) und Tochter (Sofia) vor dem Zimmer der sterbenden
Ahnin Nachtwache halten, während welcher Sofia endlich die ganze
Geschichte von Grischa - selbst der Leser des Buches kennt sie
mittlerweilen größtenteils - zu hören bekommt.
Onkel Grischa also, beliebt wie gefürchtet, dem die Fähigkeit zur Furcht
leider (oder glücklicherweise, große Streitfrage) weitgehend fehlt,
Multitalent, blendender Fotograf, Geschichtenerzähler wie kein Zweiter,
erst naiver, später bewusst treffender Karikaturenzeichner, besonderer
Liebling der Kinder des Bezirks und seiner Mutter, die sich jedoch
gleichzeitig ständig in Sorge um neue Fehltritte, Eskapaden und
Tabubrüche ihres Sohnes, die sich in Studententagen mehr und mehr zur
Regimekritik und handfestem politischem Aktivismus hinentwickeln,
befindet.
Junger Dissident, sein Streben und Scheitern, das wäre ein großes Thema,
wenn sich die Literatur entweder an eine historische Figur anlehnt oder
sich detailliert mit der Situation in der damaligen Sowjetunion (damals
kursierende politische Theorien, die an der Uni gelehrte herrschende
Ideologie, der Umgang der Behörden mit "schwierigen Jugendlichen" etc.)
beschäftigt. Leider bleibt die Autorin da ungeachtet ihrer Herkunft viel
schuldig. Möglicherweise, weil ihr gerade einmal eine Handvoll
Geschichten einer tatsächlich gelebt habenden Person überliefert worden
sind, wirkt Grischa psychologisch zu unklar gezeichnet und in seinem
Antrieb mangelhaft ausgeführt, so als hätte Frau Gorelik die vielen
Lücken nicht überzeugend zu füllen gewusst oder es zumindest nicht
gewagt. Wenn wir den jugendlichen Grischa beispielsweise recht zufällig
an Boris
Pasternaks Begräbnis teilnehmen sehen, wo sonstige Spottlust und
Widerspruchsgeist auf einmal wie weggeblasen sind und er sich den
Teilnehmern innigst verbunden fühlt, kann man das so zur Kenntnis
nehmen, wirklich glaubhaft und psychologisch stichhaltig wirkt es nicht.
Die ebenerwähnte Begräbnisszene vermag Gorelik noch einigermaßen zu
retten, indem sie Grischa lauthals und mit Erfolg verkünden lässt, man
spräche viel zu wenig von der Lyrik Pasternaks, eine Frase, die er eben
erst selbst aufgeschnappt hat, und auch die andere Begräbnisszene sieben
Jahre zuvor, als der Volksschüler während der offziellen Totenfeier für
Josef
Stalin gekonnt die tiefe Betroffenheit der Honoratioren zum
Einsturz bringt, mag so stattgefunden haben, in der Summe wird es jedoch
zu viel und erweckt den Eindruck, dass sich das Unausgegegorene beim
Schreiben über den revolutionären Onkel und sowjetische Übel in einer
Anfälligkeit für Rücksicht auf die Erwartungshaltung beim heutigen
deutschsprachigen Leser niedergeschlagen hat. So bekommt man ein paar
nette Geschichten und Details über die alte Sowjetunion zu lesen,
höheren Ansprüchen genügt dieser Teil aber nicht.
Weniger spektakulär, dabei nicht uninteressant und deutlich
realistischer präsentiert sich die Icherzählerin Sofia: überfordert mit
der kleinen Tochter und deren Herzproblemen, noch immer voll
Ressentiments gegenüber ihrer Mutter, chaotisch, reizbar und dabei
insgeheim doch auf der Suche nach sich selbst, werden sich sicher viele
Leserinnen in manchen ihrer Gefühle und Verhaltensweisen wiedererkennen.
Immerhin steht ihr mit dem Listensammeln ein Instrument zur Verfügung,
welches ihrem unsteten Leben nicht nur eine gewisse Struktur verleiht,
sondern auch für Selbstreflexion und Zuflucht zur Kreativität steht. Mit
der Entdeckung großmütterlicher Eigenheiten und besonders des
unbekannten Onkels erhält Sofia einen weiteren Schub Selbstbewusstsein
und Eigensinn und sorgt für komische Szenen wie die, einem Arzt, der sie
vor der Operation des Töchterleins scheinheilig fragt, ob sie an Gott
glaube, ein wildes "Das geht Sie überhaupt nichts an!"
entgegenzuschleudern.
Wenn es bloß kein Grischa wird, murmelt die alte Großmutter, als sie zum
ersten Mal den schwangeren Bauch ihrer Enkelin erblickt, nur um sich
gleich darauf zu korrigieren und den Wunsch zu äußern, dass es genau
das, ein zweiter Erdenbürger wie ihr charismatischer, schwieriger,
unangepasster Sohn werden möge. Ich möchte mich anschließen und auch der
Autorin für ihre Folgebücher noch etwas mehr von Grischas Geist
wünschen.
(fritz; 01/2014)
Lena Gorelik: "Die Listensammlerin"
Rowohlt Berlin, 2013. 352 Seiten.
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Lena Gorelik, 1981 in
Leningrad (heute St.
Petersburg) geboren, kam 1992 mit ihrer Familie nach Deutschland.
Mit ihrem Debütroman "Meine weißen Nächte" (2004) wurde die damals
dreiundzwanzigjährige Autorin als Entdeckung gefeiert, ihr zweites Buch,
"Hochzeit in Jerusalem" (2007), war für den "Deutschen Buchpreis"
nominiert.
Ein weiteres Buch der Autorin:
"Null bis unendlich"
Eine Jugendliebe, die die Weichen für drei Leben stellt.
Fünfzehn Jahre lang hat Nils Liebe nichts von Sanela gehört. Damals
waren beide vierzehn, Nils multiplizierte vierstellige Zahlen im Kopf,
Sanela kam aus Jugoslawien und hatte im Krieg ihre Eltern verloren.
Zwischen den beiden Außenseitern begann eine heftige Freundschaft,
vielleicht wäre es sogar mehr geworden. Aber nachdem sie zusammen
ausgerissen waren und versucht hatten, in Bosnien das Grab
von Sanelas Vater zu finden, eine so vergebliche wie gefährliche Reise,
kam das abrupte Ende zwischen Nils und dem wilden Mädchen, das immer aus
allem ausbrechen wollte. Nun erhält Nils einen Brief von Sanela, einen
Brief wie früher, scheinbar zufällig. Und weiß beim ersten Treffen, wie
sehr sie ihm all die Jahre gefehlt hat. Sanela hat einen kleinen Sohn,
der Niels-Tito heißt, der wie Nils Liebe die Zahlen liebt und sich
sofort mit diesem versteht wie mit keinem sonst. Zu dritt holen sie die
Reise nach und werden bald zu so etwas wie einer Familie. Aber Sanela
macht es Nils immer noch nicht leicht. Ihr Brief war kein Zufall, denn
sie ist sehr krank ...
Lena Gorelik erzählt von drei außergewöhnlichen Menschen, von Freundschaft,
Liebe
und Abschied
- und sie zeigt, warum es gut ist, anders zu sein und seinen eigenen Weg
zu finden. (Rowohlt Berlin)
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