Jürgen Glocker: "Glückliche Tage im Schwarzwald"
Mit
Samuel Beckett ins Gebirge
Carl Meyers arbeitet als Linguist an einer kleinen kalifornischen
Universität. Er ist unzufrieden mit seiner subalternen
Stellung, die ihm seit Jahrzehnten schon keine Karriereaussichten mehr
bietet, er hat sich mit seiner Lebensgefährtin
überworfen und greift Tag für Tag nach der
Whiskeyflasche, um die Phantome, die ihn verfolgen,
einigermaßen in Schach zu halten. Mit einem Wort:
Er ist der klassische Stadtneurotiker, der mit sich, dem Leben im
Allgemeinen, seinem persönlichen Umfeld und seiner Familie im
Besonderen nicht klarkommt. So weit, so schlecht. Da erinnert er sich
seiner deutschen Wurzeln, beantragt ein "Sabbatical",
packt den Koffer und flüchtet über den Atlantik, um
sich hoch oben im Südschwarzwald neu zu sortieren und von
seinen Ticks, Neurosen und körperlichen Gebrechen zu kurieren.
Jürgen Glocker, der in den letzten Jahren zwei erfolgreiche
Romane sowie Lyrik- und Fotobände vorgelegt hat, schickt den
Protagonisten seines Romans "Glückliche Tage im Schwarzwald",
der schon im Titel auf Samuel
Becketts berühmtes Drama
"Happy Days" und die skeptische Weltsicht des
großen Iren verweist, an den Rand einer Waldwildnis, in der
er gezwungen ist, sich auf Schusters Rappen und im Winter auf
Tourenskis neu zu orientieren. Meyers macht seine Erfahrungen mit
Nachbarn, spießigen Vermietern, der dörflichen Enge
und der Weite der Natur, er beginnt sich einzugewöhnen, geht
auf Freiers Füßen, und allmählich gelingt
es ihm tatsächlich, seine stotternde "Lebensmaschine" wieder
zum Laufen zu bringen. Als ihm freilich seine us-amerikanischen
Konkurrenten erneut nachzustellen beginnen, Mia, sein kalifornisches
"Luxusweibchen", unerwartet mit der erklärten Absicht, zu
bleiben, über den großen Teich kommt und Meyers
überdies ernsthaft erkrankt, beginnen die Dinge aus dem Ruder
zu laufen.
Auf den ersten Blick handelt es sich bei Glockers Werk um nichts
Anderes als um einen Roman über den Schwarzwald (und
über Kalifornien). Doch um was für einen!
Jürgen Glocker gelingt es mit leichter Hand, Klischees
beiseite zu räumen und die Pseudoromantik von "Forellenhof"
und "Schwarzwaldklinik" als das kenntlich zu machen, was sie ist. Mit
viel Witz, Humor und Ironie behandelt er das alltägliche Leben
der Schwarzwälder, er nimmt sich ihrer Sprache an ("Wahrscheinlich
sagt der alemannische Dialekt mehr über den Schwarzwald und
seine Bewohner aus als so mancher Bildband"), stellt ihre
großen Schriftsteller vor, insbesondere Johann
Peter
Hebel, der den promiskuitiven Flüchtling mit
seinem "Unverhofften Wiedersehen" mitten ins Herz trifft,
geißelt ihre architektonischen Sünden und
begutachtet nicht zuletzt, wie ein Feldforscher, das
tagtägliche Treiben der Einheimischen, der Touristen, seiner
us-amerikanischen Landsleute, ihr Liebesleben wie ihre Sitten und
Gebräuche. Glockers Kunstgriff besteht vor allem darin, dass
die handelnden Personen, der Schwarzwald und die Schwarzwälder
mit dem "kalten Blick" eines Fremden gesehen werden, der seine
Beobachtungen regelmäßig in ein Tagebuch
einträgt.
Der Autor erreicht damit eine Art Verfremdungseffekt und vermag aus
dieser Perspektive sehr viel Kapital zu schlagen. Frau Rotzler
beispielsweise, die Bäckerin von Glasmatt, jenem Dorf, das dem
Leser auch schon in Glockers erstem Roman "Carlo oder über den
Umgang mit Katzen, Menschen und Büchern" begegnet ist,
weiß alles, was man in ihrem dörflichen Kosmos,
ihrer Welt, wissen muss. Sie übt eine strenge soziale
Kontrolle aus und wird Meyers von seiner jungen Angebeteten, einer
schönen Freiburger Studentin als "Dosi" präsentiert ("Das
ist Studenten-Sprech. Dosi steht für Dorfsicherheit, in
Anlehnung an Stasi"). Als Carl Meyers Probleme mit
der Ausländerbehörde bekommt und überdies
von seiner kalifornischen Vergangenheit eingeholt wird, ist Frau
Rotzler ihm nachrichtentechnisch ebenso schnell auf den Fersen wie den
anderen Männern im Dorf, die fremdgehen oder ihre asiatischen
Frauen ausstellen wie wertvolle Jagdtrophäen.
Einerseits erweist sich Glockers Roman, insbesondere mit seinen
wunderbaren Landschaftsschilderungen, als eine durchaus kritische
Liebeserklärung an den Schwarzwald; andererseits reicht der
Horizont des Buches bedeutend weiter. Es geht ihm auch um das
Verhältnis zwischen Metropole und Provinz, um den
Generationenkonflikt und um die Arbeitswelt: Mit "Glückliche
Tage im Schwarzwald" hat Jürgen Glocker auch einen gelungenen
Universitätsroman über den Jahrmarkt der akademischen
Eitelkeiten vorgelegt, der die allermeisten seiner Schausteller
deformiert. Im Grunde stellt er immer wieder die Frage: Wie sollen, wie
wollen wir leben?
Vor allem Anderen aber stellt der Text ein sprachliches Meisterwerk dar: Er ist stilsicher erzählt, jede der handelnden Personen verfügt über eine eigene, höchst individuelle Sprache, er ist außerdem erhellend und transportiert ein hohes Maß an Wissen und Erfahrung - ohne jemals belehrend zu wirken. Und er besitzt einen hohen Unterhaltungswert. Auch für all jene Leser, die mit dem Schwarzwald und mit Kalifornien nichts am Hut haben.
(Horst Boxler; 12/2014)
Jürgen
Glocker: "Glückliche Tage im Schwarzwald"
Edition Isele, 2014. 408 Seiten.
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