Max Frisch: "Aus dem Berliner Journal"
"Im Januar, bei der Bestattung unsrer Schwester Emmy, Verwunderung
über die Geschichte der eignen Familie, verbunden mit den Geschichten
andrer Familien; der Tisch der Hinterbliebenen, viele Alte, aber auch
Junge. Plötzlich erinnerte ich mich kettenweise an Verdrängtes, aber
an keinen Grund, warum man es verdrängt hat." (Max Frisch)
Max Frisch
hatte verfügt, dass bis 20 Jahre nach seinem Tode das sogenannte
"Berliner Journal" (geschrieben in den Jahren 1973 und 1974) der
Öffentlichkeit verborgen bleiben möge. Es solle in einem Safe verwahrt
werden. Die Max-Frisch-Stiftung hat sich der Aufzeichnungen angenommen,
nachdem die Sperrfrist abgelaufen war. Das Ergebnis liegt nun in
Buchform vor. Die ersten beiden Hefte sind "Berliner Journal" betitelt,
die anderen drei Hefte haben andere Titel und sind zudem auch noch mit
wohl zu privaten Details angereichert. Somit ist es statthaft,
ausschließlich weitläufige Ausschnitte aus den ersten beiden Heften dem
interessierten Publikum zu präsentieren.
Was schon von den anderen Tagebüchern von Max Frisch bekannt ist, setzt
sich mit dem "Berliner Journal" fort: Es handelt sich um Texte, die
einen hochliterarischen Anspruch haben. Der in Zürich geborene Autor hat
damit nie hinter dem Berg gehalten. Dadurch hat er das Genre "Tagebuch"
in neue Sphären gezogen. Warum er dies getan hat, ist eine andere Frage.
Wer etwa die Tagebücher von Franz Kafka liest, lernt diesen genialen
Autor von einer völlig anderen Seite kennen. Die Tagebücher sind
persönlicher, intimer, sie zeigen Kafka auch als Mensch abseits
literarischer Versuchungen. Dadurch mag ein kleiner Schritt auf Kafka
zugegangen werden. Wenn dieser Aspekt fehlt, wie es bei Frisch gegeben
ist, dann fehlt etwas Wesentliches: Der Autor hinter dem Vorhang. Dies
soll keine leicht anzubringende Kritik sein, sondern eine bloße
Feststellung. Max Frisch hat sich buchstäblich der Literatur
verschrieben, und das bis in die Tagebücher hinein. Die Hefte 3 bis 5
hätten möglicherweise einen anderen Frisch zutage gebracht, genau das
wollte der Autor nicht, und das ist zu respektieren.
Die nunmehr nachzulesenden Aufzeichnungen von Max Frisch müssen nicht
als "literarische Sensation" betrachtet werden. Auch wenn er sie selbst
in den Rang der Literatur erheben wollte, so gilt es doch zu
differenzieren. Was in den Romanen von Frisch, insbesondere in "Stiller"
und "Mein
Name sei Gantenbein", meisterlich dargestellt wird, nämlich der
Frage nach der Identität und der Schwierigkeit der Selbstannahme eine
Antwort abzuringen zu versuchen, teilt sich im "Berliner Journal" als
Beobachtung der eigenen Schwäche sowie der Schwächen anderer Autoren
mit. Die Autoren ringen mit sich selbst, mit ihrer Welt, begeben sich
auf Tauchstation, besaufen sich, lassen es sich gut gehen oder sind
unerträglich. Hier findet jeder Leser interessante, manchmal lustige
Anekdoten, die sich im Grunde durch das ganze "Journal" ziehen. Ohne es
vorher geahnt zu haben, begegnete mir
Günter
Kunert! Ja, der Rezensent wagt eine persönliche Sicht auf den
Tisch zu legen, die ihn vielleicht mit all den Menschen verbindet, denen
Literatur mehr bedeutet als bloße Unterhaltung oder Löschung des
Wissensdurstes. Es geht um mehr, es geht um die Verbindung mit Figuren,
mit Menschen, mit Situationen. Und darum, wie dies alles in ein Weltbild
eingeordnet werden kann. Also Günter Kunert. Ich hatte das Glück und
Vergnügen, im Jahre 2008 in Prag anlässlich eines Autorenfestivals eine
Lesung von Günter Kunert mitzuerleben. Er war damals fast 80 Jahre alt.
Auch ganz objektiv betrachtet, sorgte seine Lesung für eine ganz
besondere Stimmung, die der Altersweisheit des Autors geschuldet war (er
las Ausschnitte aus "Der alte Mann spricht mit seiner Seele"). Ich hatte
Günter Kunert also als Zaungast erlebt, und dieser Mann war ein guter
Freund von Max Frisch gewesen. Es sind ausschließlich angenehme
Erinnerungen, die Max Frisch mit Günter Kunert verbinden. Er schildert
ihn als intelligenten, wachen, aufmerksamen und angenehmen Menschen. Im
Grunde genau so, wie ich Günter Kunert in Prag eingestuft hatte, auch
wenn dies ein "Vorurteil" in positiver Hinsicht sein mag.
"Biermann
lebt nicht schlecht, aber paradox. Seine Lieder, hier verboten und
verfemt, bringen Westgeld, das ihm ausbezahlt wird, teils in der
Währung, die ihm jeden Einkauf in Intershops erlaubt, also Luxus; wer
nicht berühmt ist und dasselbe sagt wie er, kommt in den Knast."
Den größten Raum im veröffentlichten "Berliner Journal" nimmt ganz
sicher Wolf Biermann ein. Mit ihm hat Max Frisch sehr viel Zeit
verbracht, Gedanken ausgetauscht, seine Gesellschaft gesucht und - ja -
sogar Zerstreuung gefunden. Wolf Biermann hat natürlich einen ganz
eigenen Stellenwert, der relativ konkret beschrieben ist. Er ist DER
Mann aus der DDR, der Widerstand zu leisten wagte und dem jenes Leben
vergönnt war, über das schon sehr viel verhandelt und geschrieben wurde,
darum muss dies an dieser Stelle nicht wiedergekäut werden. Nur soviel:
Max Frisch beschäftigt sich fast nur mit Ost-Berlin, der Westen scheint
ihn nicht zu interessieren. Diese "eigene Welt", wie er sie in
Ost-Berlin kennen lernt, wird mit seinen Augen reflektiert. Er sieht
nicht nur Schlechtes, gerade hierin ist wohl seine Faszination
begründet. Es wäre übertrieben, das "Berliner Journal" als DDR-lastiges
Konvolut zu bezeichnen, aber die DDR spielt definitiv eine wichtige
Rolle.
"Er hasst Böll
nicht, aber Böll, der andere Staatsschriftsteller, macht ihm zu
schaffen: nicht als Konkurrenz literarisch, aber als
Schlagzeilen-Name. Der Ehrgeiz, in der Zeitung auf der ersten Seite
(Politik) zu erscheinen neben Henry A. Kissinger, Franz Josef Strauss,
Dayan etc. Dabei im privaten Umgang ganz schlicht, auf natürliche Art
bescheiden-privat, bedürftig nach Sympathie, auch fähig zur
Anteilnahme durchaus. En famille. Wenn der Kreis größer ist, wenn
Fremde zugegen sind, kann er nicht umhin, redet als Instanz: GERMANY'S
GÜNTER GRASS."
Grass
kriegt also sein Fett ab, da lässt sich Max Frisch nicht lumpen. Er
schätzt ihn auch als Autor nur bedingt. Und seine Einschätzung hat etwas
Zeitloses, wenn wir an jene "Gedichte" denken, die Grass Jahre später in
die Zeitung brachten. In politischer Hinsicht schafft es Grass, durch
Provokation aufzufallen. Das ist eine Eigenschaft, über die er gar nicht
verfügen müsste.
Marcel
Reich-Ranicki hat es einst einmal gewagt, ein Werk von Grass als
unterirdisch schlecht einzustufen. Dies ist wohl der Tatsache
geschuldet, dass von einem Autor eines Meisterwerkes wie der
"Blechtrommel" hernach zumindest annähernd gute literarische Werke
erwartet werden. Grass war längst ein erfolgreicher Autor, als Frisch
ihn kennen lernte. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Uwe
Johnson ein gemeinsamer Freund von Frisch und Grass war. Johnson hat Max
Frisch sogar die Aufbewahrung des "Berliner Journal" aufgetragen, und
Johnson war es auch, der als Einziger schon 20 Jahre vor allen Anderen
möglichen Lesern die Aufzeichnungen lesen durfte! Neben dem von Max
Frisch also hochgeschätzten Uwe Johnson ist es auch noch Jurek Becker,
der einen besonderen Stellenwert genießt und an vielen Stellen der
Aufzeichnungen immer positiv zur Darstellung gelangt.
Max Frisch ist es zweifellos gelungen, dem "Berliner Journal" eine
literarische Note zu verleihen. Es gibt sogar einige Passagen, die sich
als besondere Prosatexte hervortun, sozusagen verselbstständigen. Ein
bisschen verrückt ist, dass Max Frisch einerseits seine eigenen
literarischen Arbeiten nie als wirklich gelungen einstufte, teilweise
sogar als unbrauchbar und schlecht klassifizierte, er es aber
andererseits als Bedürfnis empfand, sogar "gewöhnliche"
Tagebuchaufzeichnungen in literarische Höhen zu tragen. Dieser
Widerspruch ändert nichts daran, dass Frisch mit dem "Berliner Journal"
Aufzeichnungen hinterlassen hat, die auf alle Fälle eine spezielle
Sichtweise auf Ost-Berlin und seine damaligen Bürger darlegen, und das
literarische Werk durch die Dreingabe von sehr schön ausgearbeiteten
Szenen ein klein wenig erweitern.
(Jürgen Heimlich; 02/2014)
Max Frisch: "Aus dem Berliner Journal"
Herausgegeben von Thomas Strässle unter Mitarbeit von Margit Unser.
Suhrkamp, 2014. 235 Seiten.
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Weitere
Buchtipps:
Ingeborg
Gleichauf: "Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Eine Liebe
zwischen Intimität und Öffentlichkeit"
"Ich bin ein
Narr und weiß es." Max Frisch über seine Liebe zu Ingeborg
Bachmann.
Vier Jahre lang, zwischen 1958 und 1962, waren sie ein Paar: Ingeborg
Bachmann und Max Frisch. Ein Paar allerdings, von dem es keine
gemeinsamen Fotos gibt und über das nur wenige Details nach außen
drangen. Doch die beiden haben Spuren hinterlassen: in
Paris, wo ihre leidenschaftliche Liaison beginnt, in Zürich, wo
sie eine gemeinsame Wohnung beziehen, und in Rom, wohin Frisch seiner
Geliebten folgt und bald von Eifersucht
geplagt wird. Selbstkritisch gesteht er: "Das Ende haben wir nicht
gut bestanden, beide nicht." Noch über den schmerzvollen Bruch
hinaus beziehen sie sich in ihren Werken aufeinander, geben sie in ihren
Texten innerste Gefühle und Verwundungen preis. Ingeborg Gleichauf
erzählt die Geschichte einer so großen wie unmöglichen Liebe. (Piper)
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Alfred Andersch, Max Frisch: "Briefwechsel"
Herausgegeben von Jan Bürger.
Alfred
Andersch und Max Frisch begegneten einander zum ersten Mal 1957 im
legendären "Café Odeon" in Zürich. In seiner Funktion als
Rundfunkredakteur bittet Andersch den drei Jahre älteren Frisch um einen
Ausschnitt aus dem eben fertiggestellten Roman "Homo faber". Kurz darauf
schreibt Frisch einen ersten Brief; die Korrespondenz wird intensiver
Anfang der sechziger Jahre, als Frisch seine Familie verlässt und mit
Ingeborg Bachmann in Rom zusammenlebt. 1965 übersiedelte Frisch mit
seiner neuen, jungen Liebe Marianne Oellers, seiner künftigen Ehefrau,
ins Tessin, nach Berzona, wo die Anderschs seit 1958 ein Haus besaßen.
Er wohnte in illustrer Gesellschaft: Neben Alfred Andersch lebten auch
Golo Mann und der Grafiker Jan Tschichold in dem kleinen Bergdorf. Man
ging gemeinsam wandern, traf sich im Lebensmittelladen auf ein
Schwätzchen. Doch die Idylle währte nicht lange, die Spannungen zwischen
den beiden streitbaren Geistern Frisch und Andersch nahmen zu, bis hin
zum zeitweiligen Abbruch jeglicher Beziehung durch Andersch. (Diogenes)
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"Max Frisch"
Mit seinen literarischen Werken, Schriften, Tagebüchern, Reden und
Vorträgen repräsentiert Max Frisch (1911-1991) die deutschsprachige
Nachkriegsliteratur, deren einzelne Phasen und Zäsuren er mitgeprägt
hat. Die Neufassung des Heftes eröffnet einen aktuellen Blick auf
kanonische Werke wie "Homo faber" und "Stiller", bezieht jedoch auch
weniger bekannte Texte und frühe Dramen wie "Santa Cruz", "Die
chinesische Mauer" und "Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie" ein,
ergänzt von Beiträgen zu Spätwerken, zu Frisch als Redner und
öffentlicher Person. (Edition Text + Kritik)
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