Franzobel: "Wiener Wunder"
Krimi mit Wiener Schmäh
Der 1967 im oberösterreichischen Vöcklabruck geborene und derzeit in
Wien lebende Autor Franzobel hat mit seiner neuesten Veröffentlichung
einen stilisiert-waschechten Wiener Kriminalroman abgeliefert. Einen
Kriminalroman, der dennoch viel mehr zu bieten hat, als nur des Rätsels
Lösung.
"Es war ein regnerischer Oktobertag. Auf den Straßen Wiens standen
Wasserlachen, und wenn man nicht nahe an der Hauswand ging, wurde man
von rücksichtslosen Autofahrern nassgespritzt. Ein kalter Wind pfiff
durch die Gassen, so stark und böig, dass es Hüte und kleine Hunde
davonwehte, Schirme umbog und fahrende Motorräder um einen halben
Meter versetzte."
Kommissar Groschen, der ebenso bewusst stilisiert ist, erhält zu Beginn
eine E-Mail, über die ihm mitgeteilt wird, dass in den nächsten
Tagen ein österreichischer Spitzensportler an einem vermeintlichen
Selbstmord sterben wird, der aber näher betrachtet werden solle, da es
sich bei diesem um Mord handeln wird. Groschen, der offenbar selbst
keine E-Mail-Adresse hat (zusätzlich weder Smartphone,
noch Computer, noch Auto), sucht tagelang nach entsprechenden
Meldungen, bis er zu einem passenden Todesfall gerufen wird.
Wenninger, ehemaliger österreichischer Spitzenathlet, diverse Titel, vor
einiger Zeit des Dopings überführt und lebenslang gesperrt, soll sich
aus einem Fenster gestürzt haben. Noch dazu aus jenem, das dem
Spritzen-Charly Stanek gehört, seinem Dopinglieferanten.
In weiterer Folge bemüht sich Kommissar Groschen erfolgreich, den Fall,
der ihm eigentlich bereits wieder entzogen worden ist, Sparmaßnahmen,
versteht sich, auf eigene Faust zu klären. Diese Entscheidung führt ihn
sogar mit einer Gehirnerschütterung ins AKH.
Die eindeutigen Allusionen, derer sich Franzobel bedient, deuten darauf
hin, dass es dem österreichischen Autor nicht darum gegangen ist, einen
spannungsgeladenen Krimi zu schreiben. Wer hat hier nicht Pate
gestanden, fragt sich? Von Raymond Chandlers Krimis über die "Inspektor
Columbo"-Serie bis zum typisch österreichischen Humor sammeln sich die
Inspirationsquellen. Und sollte das jetzt nach "Plagiat" riechen, ist
das ein Fehlalarm, denn Franzobel nimmt sich bewusst Anleihen, um daraus
dann etwas ganz Eigenes zu machen. Spaß, Humor und Satire stehen
natürlich im Vordergrund. Also auch die Freude am Entdecken der Spuren,
die nicht nur kriminalistischer Natur sind. Hartgesottene Krimiliebhaber
werden möglicherweise mit diesem Buch wenig Freude haben.
Wohl aber scheint der Autor selbst einen Riesenspaß beim Schreiben
dieses Wienromans mit einer gehörigen Portion Sozialkritik gehabt zu
haben.
"Wie ist ihr Name? Wo wohnen Sie?
- Engel. Darius Engel. Vierter Stock.
- Ist Ihnen in letzter Zeit etwas aufgefallen?
- Ja, der Hund im zweiten Stock ist inkontinent, jetzt gibt es immer
Tröpfchen im Stiegenhaus. Im ersten Stock raucht jemand auf dem Gang,
und irgendwer wirft leere Dosen ins Altpapier. Außerdem stiehlt man
meine Zeitung aus dem Briefkasten."
Zu den Verdächtigen in diesem heiter-bösartigen Kriminalroman gehören
unter Anderem der bereits erwähnte Dopinglieferant, ein windiger
Dopingfahnder sowie die blondierte Witwe und ihre Geliebten. Wild lassen
sich die Protagonisten über diverse österreichische Mätzchen aus, Talkshowleiterinnen
und andere Prominente werden durch die Blume aufs Korn genommen. Wienerinnen
und Wiener werden ihre Stadt wiedererkennen, und Nichtwienerinnen
und Nichtwiener werden sie so ein wenig kennenlernen.
Dann spitzt sich die Handlung zu, von der der Rezensent aus
verständlichen Gründen nicht mehr verraten wird, und am Ende siegt die
Gerechtigkeit.
"Wiener Wunder" ist eine wirklich heitere, kriminalistische Lektüre, die
Spaß macht. Nicht mehr und nicht weniger, aber das ist im Sinne der
gehobenen Unterhaltung eine tatsächliche Wohltat.
Definitive Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 07/2014)
Franzobel:
"Wiener Wunder"
Zsolnay, 2014. 223 Seiten.
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Ein Sachbuchtipp zum Thema Wien:
Monika Czernin: "Das letzte Fest des alten Europa. Anna Sacher und ihr
Hotel"
Die legendäre Hotelbesitzerin Anna Sacher: In ihrem Leben spiegelt sich
Glanz und Niedergang von Wiens großer Epoche.
Ihre Gäste und ihr Gespür für die Wiener Gesellschaft haben sie berühmt
gemacht: Anna Sacher, Alleinerbin und legendäre Chefin des Hotel Sacher
zur Zeit der Jahrhundertwende. Sie inszenierte den Ort, an dem
wechselvoll Geschichte geschrieben wurde, an dem sich alle begegneten:
Hof und Hochadel, Macht, Geld und Industrie. Die Künstler
der Sezession, die Musiker und Schriftsteller aus Wiens großer
Epoche. Monika Czernin erzählt die Geschichte eines außergewöhnlichen
Lebens und zugleich ein Stück europäischer Kulturgeschichte. (Knaus)
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