Per Olov Enquist: "Das Buch der Gleichnisse"
Ein Liebesroman
Zwar wird von der Hauptfigur in der dritten Person erzählt, dennoch kann kein Zweifel darüber aufkommen, dass hier das alter ego des Schriftstellers in Erscheinung tritt, somit sei als Ergänzung auf Enquists autobiografisches Werk "Ein anderes Leben" hingewiesen. Doch ob nun rein autobiografisch oder nicht - es ist hochgradig existentielle, auf das Wesentliche zielende Literatur, die hier geboten wird.
Ein knapp achtzigjähriger Mann weilt wieder einmal in der alten Heimat in Nordschweden und erinnert sich an wichtige Erlebnisse an diesem Ort wie auch anderswo, reflektiert, meditiert über das Erinnerte, sucht Klarheit zu schaffen über seine hier erfahrenen Prägungen, über ungelöste Familiengeheimnisse und persönliche Lebensrätsel, Einsichten zu erlangen, Zusammenhänge herzustellen. Die dritte Person dient dabei der für die angestrebten Klärungen nötigen Distanz, und besser, als es die erste Person könnte, veranschaulicht sie in der raschen Abfolge aus unterschiedlichen Perspektiven und biografischen Abschnitten, wie sie in dem Roman erscheint, ihre stetige Wandlung; sich ändernde Namen wie Enquist, E, er, der Schriftsteller, der Junge etc unterstreichen, dass sie genaugenommen nie dieselbe ist.
Die Struktur des Romans bilden neun Gleichnisse, zu interpretierende und eventuell mit Eigenem (auch des Lesers, versteht sich) zu vergleichende Themen, Personen, Vorfälle, denen in Es Leben eine bedeutende Rolle zukam. Gleichnisse deshalb, weil die Gleichnisse der Bibel die einzige Art von Literatur war, die seine Mutter, Volksschullehrerin und wie fast alle im Dorf strenge Anhängerin der Erweckungsbewegung, uneingeschränkt guthieß, neun an der Zahl, da ebensoviele Seiten aus dem Notizbuch des sehr jung verstorbenen Vaters fehlten, welches im übrigen auch zahlreiche Liebesgedichte enthielt und von der Mutter, als sie es nach dem Tod ihres Mannes vorgefunden hatte, erst ins Feuer geworfen, dann aber (in Reue?) diesem doch wieder entrissen worden war.
Ein
Liebesroman, wie es der Untertitel besagt, ist das Buch auf zweierlei
Art. Zum einen berichtet E darin zum ersten Mal von der Frau, der er
seinen ersten Geschlechtsverkehr zu verdanken hat (worüber
Stillschweigen zu bewahren er eigentlich versprochen hatte), was im
Lauf der Zeit zwischen den beiden gesprochen worden ist und sich
zugetragen hat, zum anderen geht es in dem Roman ganz allgemein in
erheblichem Ausmaß um Lust, Sexualität und den
Umgang mit ihnen.
Der Leser wird dabei Zeuge einer Gesellschaft, deren rigide Sexualmoral
gefährliche Spannungen hervorruft und für allerhand
regionaltypische Unnatürlichkeiten, Perversionen,
Märtyrer und Opfer veramtwortlich ist. An gleichnistauglichen
Vorbildern, wofür bereits der junge E einen Sinn besitzt, gibt
es hingegen nur sehr wenige, sodass der Heranwachsenden sich in diesen
Dingen großteils von biblischen Texten nähren muss.
In der Pubertät beginnen seine Fantasien seltsame
Blüten zu treiben, doch die Erlösung kommt
früh und sie kommt mit der Gewalt eines archaischen
Initiationsritus: bei besagtem Liebesakt steigern sich durch die
besonderen Umstände (ein streng religiös erzogener
schüchterner Fünfzehnjähriger und eine
Einundfünfzigjährige aus Stockholm) die Spannungen
noch einmal gewaltig und entladen sich schließlich in einem
als religiös erlebten Höhepunkt: Sinn des Lebens,
eingetreten, durchgekommen, im innersten Raum (von diesem handelt
übrigens das zentrale Gleichnis des Romans) sind Worte, die
Enquist für dieses Gefühl, für diesen
Zustand verwendet.
Lieblingsworte wie diese (einige sogar in der Skelletmundart seiner
Herkunft), meist überdies kursiv geschrieben, tragen
weitgehend den Roman. Sie sind geladen mit des Schriftstellers
persönlicher Geschichte, mit Gefühl und Spekulation
und bilden in dem Prosageflecht aus Erlebnis, Erinnerung, Reflexion und
Kontemplation die Schaltzentralen für
erzähltechnische Verbindungen und alle möglichen
Assoziationen, im Text natürlich ausgesucht, geordnet und
kontrolliert und gern einmal mit einem "Genug davon" jäh
abgeschnitten.
Gemäß seiner eigenen Aussage fühlt sich
Enquist nur dann gänzlich angsfrei, wenn er schreibt. Dieser
Umstand und der in diesem Roman für ihn so essentielle Inhalt
bringen eine dem Wollen des Schriftstellers wie von selbst folgende
Sprache, souverän eingesetztes Instrument im Prozess der
Selbsterkundung, Interpretation und Bewertung mit sich.
Auch
wenn sich Enquist vom Glauben seiner Kindheit weit entfernt hat, und
abgesehen selbst von der christlichen Gleichsetzung von Gott und Liebe,
ist "Das Buch der Gleichnisse" auch ein sehr religiöses Buch.
Ein Gleichnis, das sechste, das vom veruntreuten Pfund, nimmt direkt
auf die Bibel
Bezug. Hier fällt bis zu einem gewissen Grad der
konfessionelle Ansatz seiner Herkunft, jenes unerbittliche
Entweder/Oder von Paradies und Verdammnis mit der brennenden Frage des
Schriftstellers nach seiner Tauglichkeit und dem Wert des zum
Großteil abgelaufenen Lebens zusammen. Die
Katze wird ihm dabei zum Vorbild eines auf die Vergangenheit
pfeifenden, nur nach vorne blickenden, selbst den depressivsten
menschlichen Mitbewohner annehmenden Seins. Der Hund, der erschrickt,
wenn er seine eigene Spur wittert, versinnbildlicht seinen eigenen
Werdegang, sein stetes Weiterziehen (Stockholm, Paris, Kopenhagen etc)
und schließlich Eingeholtwerden. Wie E
alkoholsüchtig wird und beinahe einem Herzanfall erliegt, bis
er irgendwann doch der vertanen Zeit inne wird und erschrickt, oder wie
ein befreundeter Junge, der Es Bücher liebt, krankhaft
süchtig ist nach Schuld und schließlich ein
tragisches Schicksal (tragisch? auch von der Möglichkeit der Auferstehung
ist da die Rede) erleidet, dergleichen wird noch einmal erlebt, einer
gründlichen Prüfung unterzogen und eindringlich,
metafysische Gesichtspunkte miteinschließend,
erörtert.
Dass Per Olov Enquist den ihn von Kindheitstagen an faszinierenden
Begriff der "Selbsterlösung" weiterhin ernst nimmt,
dafür ist das vorliegende Buch der beste Beweis.
(fritz; 08/2014)
Per
Olov Enquist: "Das Buch der Gleichnisse. Ein Liebesroman"
(Originaltitel "Liknelseboken")
Übersetzt
aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt.
Hanser, 2013. 222 Seiten.
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Per
Olov Enquist, 1934 in einem Dorf im Norden Schwedens geboren, lebt in
Stockholm. Nach dem Studium arbeitete er als Theater-
und Literaturkritiker. Er zählt heute zu den bedeutendsten
Autoren Schwedens.
Per Olov Enquist starb am 25. April 2020.