Volker Reinhardt: "De Sade oder Die Vermessung des Bösen"

Eine Biografie


War der Marquis de Sade ein Sadist?

Der am 2. Juni 1740 geborene Donatien-Alphonse-Francois de Sade gilt bis heute als der berüchtigtste Schriftsteller aller Zeiten, und nicht einmal der völlig durchgeknallte Aleister Crowley vermochte es, ihm diesen Rang streitig zu machen. De Sades Werk übte und übt noch immer eine düstere Faszination aus, viele prominente Vertreter aus Philosophie, Literatur und Psychoanalyse zog es in seinen Bann, von Charles Baudelaire, Swinburne über Richard von Krafft-Ebing, (der übrigens den Begriff Sadismus in die Psychologie bzw. Psychiatrie einführte), bis hin zu Sigmund Freud. Surrealisten wie Man Ray oder der spanische Regisseur Luis Bunuel und auch Philosophen wie Max Horkheimer und Theodor W. Adorno erwiesen dem Marquis ihre Wertschätzung. Albert Camus las aus seinen Texten zwar eine Glorifizierung der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts heraus, also lange bevor es diese tatsächlich gegeben hat, doch damit tat er dem Marquis zweifellos Unrecht. Das Grauen, das in den Folterkammern de Sades herrschte, wurde dann zwar leider zur schrecklichen Realität in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten, doch de Sade eine Seelenverwandtschaft mit den Nazis anzudichten, verbietet sich von selbst, wenn man die vorliegende Biografie gelesen hat.

Wer also war dieser Marquis de Sade, und für welche Ideen und Überzeugungen stand er? War er ein Pionier, ein Erforscher der entlegenen, kryptischen Bereiche der menschlichen Psyche, lange bevor Freud und Jung sich dieser annahmen, oder sind seine Texte einfach nur in Buchstaben und Wort gemeißelte Manifestationen eines unterschwelligen Wahnsinns? Potenzierter, ironisierter, parodierter Surrealismus vielleicht? De Sade selbst sah sich als eine Art Galilei des menschlichen Bewusstseins, als Erforscher seelischer Abgründe, als Vermesser des Bösen, wie es im Titel dieser Biografie anklingt. Seine wesentlichste Erkenntnis war wohl die, dass fast alle Menschen nicht nur böse, sondern auch und vor allem dumm sind und daher leicht manipulierbar, was sich Religionsstifter und Ideologen seit jeher zunutze machen. De Sade war bekennender Atheist und ein entschiedener Gegner des Christentums, dem er tiefste Barbarei vorwarf, weil es durch den künstlichen Triebstau unterdrückter Sexualität den Menschen zur Bestie erzieht.

Das Credo der de Sadeschen "Helden" war: Es gibt weder Gott noch eine Moral, sondern nur eine bis zur äußersten Grausamkeit unbarmherzige und zerstörerische Natur. Eine radikale Absage an Rousseau und seine Idyllisierung der Natur. Es nimmt kein Wunder, dass de Sade schnell zum Staatsfeind Nr.1 avancierte und dies auch Zeit seines Lebens blieb, ob nun unter dem Monarchen Ludwig XVI, unter dem Revolutionär Robespierre oder ob unter dem Diktator Napoleon Bonaparte. Zum Schreiben literarischer und philosophischer Werke kam der Marquis während seiner fast zwölf Jahre währenden Haft, zunächst in Vincennes, später in der Bastille. Dort entstand auch das berüchtigtste und verfemteste Buch der Weltliteratur: "Die 120 Tage von Sodom".

Die Tatsache, dass der Marquis de Sade keinerlei autobiografische Aufzeichnungen hinterlassen hat, erschwert selbstredend die Aufgabe des Biografen. Er muss seine Erkenntnisse bzw. Schlussfolgerungen aus den allgemein bekannten Fakten der Lebensumstände de Sades sowie aus dessen überlieferten Werken ziehen. Volker Reinhardt meistert diese Aufgabe mit Bravour. Er überzeugt sowohl in der Darstellung der Fakten als auch in seiner auslotenden Deutung des Ungewissen, des in der de Sadeschen Prosa Versteckten. Mit großem psychologischem Gespür und analytischem Tiefgang erschließt Volker Reinhardt seinen Lesern eine Pforte zum Verständnis von Persönlichkeit und Werk de Sades. Er zeigt die zahlreichen Widersprüche auf, die das Leben de Sades und das seiner Protagonisten prägten. Ein wesentliches Dilemma der "Helden" de Sades sieht Volker Reinhardt darin, dass die totale Emanzipation, die sie anstreben, letztendlich zur Fesselung wird, die gesellschaftlich sanktionierten Abartigkeiten und Verbrechen, die sie ausüben, würden durch die Aufhebung ihres Verbots schal und nichtig.

Die Natur belohnt das Verbrechen und bestraft die Tugend! Ein immer wiederkehrender Leitsatz in de Sades Schriften. Und oftmals wurde dies mit der Philosophie de Sades gleichgesetzt. Doch Volker Reinhardt hält dem entgegen: "Der Marquis de Sade lebte nicht nach diesen Maximen - im Gegenteil. Er versagte sich nicht nur den angeblich höchsten Lustgewinn durch Mord, sondern übte sich als Verächter des Christentums in einer Mitmenschlichkeit, die dem christlichen Ideal voll und ganz entsprach. Mehr christliche Barmherzigkeit als der bekennende Atheist und Verächter des Christentums de Sade konnte man kaum an den Tag legen." Hat nicht die Lektüre des Sades sogar eine therapeutische Funktion, wie Volker Reinhardt an anderer Stelle nahelegt: "Wer den Menschen bessern will, muss ihm den Blick in seine eigenen Abgründe öffnen. Darin liegt die therapeutische Funktion der letzten 'Justine'. Wer 'Justine' von Anfang bis Ende gelesen hat, erkennt entweder seine eigene Neigung zum Bösen oder wendet sich angeekelt ab." Die wenigen exemplarisch ausgewählten Szenen aus den Werken de Sades, die sein Biograf uns offeriert, präsentieren sich dem Leser denn auch in gleißend brutalem Licht, und umso düsterer und bedrohlicher sind dann die Schatten, die ihnen folgen.

Man meint, eine gewisse Sympathie des Autors für de Sade herauslesen zu können, eine Sympathie, die sich auch auf den Leser dieser Biografie überträgt. Und das Korsett aus Werturteilen, in das seine Zeitgenossen den Marquis gezwängt haben, ist ja auch bereits vor gut einem Jahrhundert gesprengt worden, selbst wenn seine Bücher noch bis vor kurzem verboten waren. Trotz aller unterschwelligen Sympathie für de Sade kommt niemals der Eindruck auf, dass Volker Reinhardts kritischer Blick auch nur im Geringsten getrübt wäre. Er wahrt stets eine gesunde Halbdistanz, die den Leser seiner Biografie zu eigenem Nachdenken und zu eigener Urteilsfindung auffordert.

Keinerlei Sympathie brachte Napoleon Bonaparte dem Marquis de Sade entgegen. Napoleon verfügte vermutlich ganz persönlich über das Schicksal des Marquis, der seine letzten Lebensjahre in der Irrenanstalt von Charenton verbrachte, für den dort berühmt-berüchtigten Internierten ein Refugium der geistigen Gesundheit in einer zunehmend verrückter werdenden Welt, die ein wahnsinniger Franzosenkaiser mit seinen Kriegen zu verheeren drohte. Ein weiteres Paradoxon in der Lebensgeschichte de Sades, der am 2. Dezember 1814 in Charenton starb und auf dem dortigen Friedhof beigesetzt wurde. Sein Schädel, der bei einer späteren Umbettung für wissenschaftliche Zwecke entnommen wurde, ist bis auf den heutigen Tag verschollen, was wiederum der US-amerikanische Schriftsteller Robert Bloch (u. A. Ideengeber und Autor von Hitchcocks "Psycho") zum Anlass nahm, eine Horrorgeschichte zu diesem Thema zu schreiben: "Der Schädel des Marquis de Sade", eine lesenswerte Kurzgeschichte.

Mindestens ebenso lesenswert ist Volker Reinhardts Biografie über den göttlichen Marquis, wie er von seinen Anhängern und Bewunderern noch heute respektvoll genannt wird. Respekt zu zollen ist in jedem Fall auch der Arbeit des Biografen, der jetzt auch das Schlusswort haben soll: "Als leicht konsumierbare Kost hat der Marquis seine Texte jedoch nicht gesehen, sondern als fortwährende Provokation, über die Abgründe des Menschen und seiner Existenz nachzudenken. Diese Anstößigkeit ist heute von allen Seiten bedroht. Sie wiederherzustellen war ein Ziel dieser Biographie."

So kann man dem Buch nur eine weite Verbreitung wünschen.

(Werner Fletcher; 09/2014)


Volker Reinhardt: "De Sade oder Die Vermessung des Bösen. Eine Biografie"
C.H. Beck, 2014. 464 Seiten mit ca. 60 Abbildungen und 1 Karte.
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