Margriet de Moor: "Mélodie d'amour"
Ausnahmezustand Liebe
Das Motiv der Liebe zieht sich wie ein roter Faden durch das Schaffen
der 1941 im niederländischen Noordwijk geborenen Schriftstellerin, die
zu den renommiertesten Autoren der Niederlande zählt. Nach einem
Musikstudium (Gesang und Klavier) folgten noch Studien der
Kunstgeschichte und Architektur. Eine bereits eingeschlagene Karriere
als Sängerin gab sie auf, da die Bühnenangst bei ihr stärker ausgeprägt
war, als der Wunsch, zu singen. Nach einer Zeit als Klavierlehrerin und
Filmemacherin begann sie mit dem Schreiben. 1991 erschien ihr Debütroman
„Erst grau, dann weiß, dann blau“, der auf Anhieb zu einem
Verkaufserfolg wurde. Ihr Roman "Mélodie d'amour" folgt
interessanterweise einem ähnlichen vierteiligen Aufbau wie ihr
Debütroman.
In vier Abschnitten, die aus jeweils anderen Perspektiven erzählt
werden, setzt sich ein großes Mosaik verschiedenster Formen der Liebe
zusammen. Wie in einer Art Staffellauf wird der Erzählstab an dem Moment
weitergegeben, an dem die Liebe der vorigen Erzählung endet. Die
Verbindungen zwischen den Protagonistinnen und Protagonisten dieser
Erzählungen sind mehr oder minder lose, die Schnittstelle kann unter
Anderem auch nur ein ähnliches Ereignis sein. Oder Leidenschaft. Sogar
bis über den Tod hinaus. Nur Luuk Doesburg, Architekt, Sohn von Atie und
Gustaaf, den der Leser im ersten Abschnitt als Sargträger kennenlernt,
ist in alle vier Geschichten verwickelt.
Die Liebe ist eine Macht, die keine Grenzen kennt, die unberechenbar
ist, die, während sie die treibende, stärkende Kraft sein kann, auch
absolute Unterwerfung fordert. Margriet de Moor geht sogar so weit, ihr
Thema über die Grenzen des menschlichen Daseins hinaus zu erforschen,
bis in den Konterpart hinein: den Tod. Dabei geht es in diesen
Geschichten, die nichtsdestotrotz in der konzeptuellen Geschlossenheit
einen stringenten Roman ergeben, viel mehr um das Lieben per se, wobei
sich die Autorin an Platon
zu orientieren scheint, dessen Behauptung, dass das Lieben ergreifender
und göttlicher sei, als der Zustand des "Geliebtwerdens".
Im ersten Teil muss Gustaaf einen Weg finden, sich von der Liebe seines
Lebens, Atie, zu verabschieden, die ihn, aus Wut über seine Untreue, mit
dem Verbot, je wieder über die Schwelle ihrer neuen Wohnung zu treten,
verlassen hat. Obwohl Gustaaf längst wieder verheiratet ist und eine
neue Familie gegründet hat, liebt er Atie weiter und kann sich nicht von
ihr lösen. Die drei Söhne des Paares finden, obwohl sie sich an den
Wunsch der verstorbenen Mutter halten, doch eine interessante und
unkonventionelle Lösung für einen Abschied des Vaters von der Mutter.
"Er geht um den Sarg herum. Mit dem Rücken zu den Söhnen streckt er
einen Arm aus. Seine Finger berühren die grau gewordenen Haare, die
ordentlich gekämmt und bis knapp unters Kinn abgeschnitten sind. Wer
hat sie schön gemacht für ihren Tod? Die Frauen der vier nachgiebigen
jungen Männer, die sich jetzt ganz in den Schatten des Innenhofs
zurückgezogen haben? Um ihn allein zu lassen mit ihr, während sie sie
aber doch verschämt noch ein bisschen bewachen? Die Frauen haben sie
in eine elegante Hose und Bluse gesteckt und ihr ein großgeblümtes
Tuch über Arme und Schultern gelegt."
Der verheiratete Vater von zwei Kindern Luuk Doesburg wird selbst von
einer unverheirateten Frau geliebt, mit der ihn ein Verhältnis
verbindet, hier ist er derjenige, der geliebt wird. Das klischeehafte
Dilemma einer Affäre wird allerdings zum kategorischen Spiel "Alles oder
Nichts", denn für seine Geliebte ist er der Mann fürs Leben, der Mann,
der ihr bestimmt wurde zu lieben, auch wenn diese Liebe so nicht
erwidert wird.
Luuk liebt Rosalynde, die allerdings ihren verstorbenen Bruder über
alles liebt. Und Myrte, die betrogene Ehefrau Luuks, hat, wie man im
letzten Abschnitt des Romans erfährt, ihre eigene Leidenschaft.
Und so kreist der Roman, ein wenig vergleichbar mit der musikalischen
Form eines "Rondos", um das ewige Thema der maßlosen, anarchistischen
und vernunftlosen Liebe. Um einen Zustand, der nicht einmal durch das
durch Erfahrung gewonnene Wissen oder die erwachsenen Menschen
eigentlich eigen sollende Vernunft besänftigt werden kann. Natürlich ist
so ein Zustand nicht ohne eine gewisse Portion Pathos erlebbar, obschon
Margriet de Moors mittlerweile fast abgeklärt wirkende Prosa ihr Bestes
tut, um ebendieses Pathos möglichst effektiv zu neutralisieren.
Margriet de Moors Roman "Mélodie d'amour" ist ihr bisher sicherlich
stärkster, abgeklärtester Roman, überzeugend in seiner Unvereinbarkeit
der Gefühlswallungen und des Verstandes. Natürlich kongenial übersetzt
von Helga van Beuningen.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 04/2014)
Margriet
de Moor: "Mélodie d'amour"
(Originaltitel "Mélodie d'amour")
Aus dem
Niederländischen von Helga van Beuningen.
Hanser, 2014. 378 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen
Weitere Buchtipps:
Sue Johnson: "Liebe macht Sinn.
Revolutionäre neue Erkenntnisse über das, was Paare zusammenhält"
Die Scheidungszahlen steigen. Gleichzeitig wächst die Sehnsucht
nach einer gelungenen und wärmenden Partnerschaft. Doch sind wir
Menschen überhaupt gemacht für die ewige Liebe, von der wir alle
träumen? Ja, sagt Sue Johnson, absolut! In "Liebe macht Sinn" verweist
sie auf revolutionäre neue wissenschaftliche Studien, die alle das eine
belegen: Wir sind von Natur aus monogam veranlagt und zur Bindung
bereit. Eine dauerhafte, liebevolle Beziehung ist möglich! Und: Wir
können lernen, sie zu einzugehen und zu erhalten. (btb)
Buch
bei amazon.de bestellen
John Gottman, Nan Silver:
"Die Vermessung der Liebe. Vertrauen und Betrug in Paarbeziehungen"
Die neuesten Forschungsergebnisse des Paartherapeuten John Gottman aus
seinem legendären "Liebeslabor" zeigen: Vertrauen ist das A und O jeder
Paarbeziehung, es ist die Grundvoraussetzung dafür, dass Paare dauerhaft
zusammenbleiben und eine tiefe Intimität aufbauen.
Anders als andere Paartherapeuten gewinnt Gottman seine Erkenntnisse,
indem er über Jahrzehnte Tausende von
Paaren in seinem Labor beobachtet und videoanalysiert, ihren
Kommunikationsstil untersucht, ihren Biorhythmus bestimmt und
körperliche Reaktionen wie den Puls misst. Das Buch zeigt, wie Paare
ihre Beziehung verbessern, selbst oder gerade dann, wenn eine
Beziehungskrise droht oder sie kurze Zeit zurückliegt, indem sie an
ihrem Vertrauensverhältnis arbeiten. Wann lohnt es sich überhaupt noch,
an einer Beziehung festzuhalten? Paare, die einen ehrlichen Blick auf
die Qualität ihrer Beziehung haben wollen, können in einem Selbsttest
ihren Liebesquotienten ermitteln. (Klett-Cotta)
Buch
bei amazon.de bestellen
Barbara Kuchler, Stefan
Beher (Hrsg.): "Soziologie der Liebe. Romantische Beziehungen in
theoretischer Perspektive"
Die romantische Liebe gilt uns als geheime Macht, als Quelle von
höchstem Glück und gelegentlich auch von großem Schmerz. Sie wurde von
Dichtern besungen und von Hollywood verkitscht. Die Soziologie
hingegen holt die romantische Liebe auf den harten Boden der
gesellschaftlichen Tatsachen zurück und beschreibt sie als soziale
Erfindung, als Quidproquo oder als kommunikative Zumutung, wie die
in diesem Band versammelten Texte aus hundert Jahren Soziologie von
Georg Simmel bis Randall Collins zeigen. (Suhrkamp)
Buch bei amazon.de bestellen
Josef Pieper: "Über die
Liebe"
In der Neuausgabe "Über die Liebe" von 1972 spricht Josef Pieper
kritisch, wach, klärend in eine Zeit hinein, die in Sprache und
Verhalten vom Eros zur forcierten Sexualität
wechselte. Was Pieper an intellektuellen Missverständnissen und
gewalttätigem Umgang mit der Liebe aufzeigt, wie er an die Diagnose ein
therapeutisches Erhellen und Umdenken anschließt, kurz wie er in die
Freiheit des richtigen Liebens führt, kann in zehn meisterhaften
Kapiteln mitvollzogen werden.
Josef Pieper (1904-1977) war einer der bekanntesten christlichen
Philosophen der Gegenwart. (Kösel)
Buch bei amazon.de bestellen