Paulo Coelho: "Untreue"
"Bis
zum Anfang dieses Jahres habe ich mir keine großen Gedanken
gemacht, lebte einfach weiter mein Leben, obwohl ich mich hin und
wieder schuldig fühlte, weil ich so privilegiert bin. Doch
eines Tages kurz nach Frühlingsbeginn fragte ich mich
plötzlich, während ich für meinen Mann und
meine beiden Kinder das Frühstück zubereitete: 'Ist
das alles?'"
In diesem Buch, dessen Originalausgabe zeitgleich in Brasilien
erschienen ist, erzählt Paulo Coelho die Geschichte einer Frau
aus der Schweiz. Sie lebt in Genf, einer als freudlos geschilderten
Stadt, mit deren Geschichte sie nicht nur wegen vieler Institutionen
und Konferenzen der UNO verbunden ist, sondern auch mit dem Reformator
Calvin, der in dieser Stadt ein
Schreckensregime errichtete, um seinen
Glauben durchzusetzen.
Beides nutzt Coelho selbstverständlich für aktuelle
Reflexionen
über Gut und Böse. Die Protagonisten seines
Romans gehören, wie schon so oft in seinen neueren
Büchern, der absoluten Oberschicht an. Vielleicht
hängt das damit zusammen, dieser Verdacht drängt sich
förmlich auf, dass sich Coelho nur noch mit solchen Menschen
umgibt und die Lebensumstände einfacher Zeitgenossen gar nicht
mehr kennt?
Erzählt wird die Gesichte von der 31-jährigen Linda.
Sie ist mit einem reichen Mann verheiratet, der mit Investments
sein Geld verdient und erstaunlich viel Zeit für seine Frau
und seine beiden Kinder hat. So, wie Coelho diesen Mann schildert, er
ist verständnisvoll im Umgang mit seiner Frau und seinen
Kindern, und er kann gut zuhören, wünscht sich wohl
jede Frau ihren Partner.
Doch die als Journalistin bei einer großen Genfer Zeitung
arbeitende Linda ist todunglücklich. Es sind die Anzeichen
einer veritablen
Depression,
die sich bei ihr bemerkbar machen. Ihre ehemalige Begeisterung
für ihr Leben, ihre Familie und ihren Beruf ist wie
weggeblasen. Die Leidenschaft, auch und gerade die sexuelle, ist
verschwunden, und die Fröhlichkeit hat sich aus ihrem ehedem
sicheren und glücklichen Alltag verabschiedet.
Noch während sie über mögliche Therapien
nachdenkt und dabei auch sehr einfühlsam von ihrem Mann
unterstützt wird, begegnet sie bei einem Interview einem
Jugendfreund. Jacob König ist Politiker, steht kurz vor der
Wahl in die Kantonsregierung und hat sogar Aussichten auf das
höchste politische Amt der Schweiz in einigen Jahren. Doch er
ist frustriert und macht sein politisches Geschäft eigentlich
nur noch seiner Frau zuliebe.
Man ist als Leser in die niedergedrückte Stimmung Lenas
eingeführt, und dennoch ist das, was bei ihrer Begegnung mit
Jacob passiert, für sie, für Jacob und auch den Leser
schockierend überraschend: Sie öffnet ihm den
Hosenschlitz und befriedigt ihn mit dem Mund.
Der Rezensent hegt ja schon lange den Verdacht, dass insbesondere
ältere Autoren mit der Schilderung solcher sexueller
Praktiken, (es werden später noch sehr brutale Szene eines
Analverkehrs beschrieben), nur ihre eigene Fantasie bedienen. Aber das
nur nebenbei.
Dennoch: Es wird deutlich, dass Linda nicht liebt, sie findet eine
oberflächliche Leidenschaft wieder, die es in einer
langjährigen Ehe mit Kindern so vielleicht nicht mehr geben
kann, aber sie liebt nicht. Gerade auch nicht mehr sich selbst.
Paulo Coelho wäre nicht der spirituelle Schriftsteller, der er
seit Langem ist, würde er nicht auch in diesem Buch
häufig über den spirituellen und religiösen
Charakter der Liebe reflektieren. Das
13.
Kapitel von Paulus' erstem Brief an die Korinther aus dem
Neuen Testament ist ihm dabei Richtschnur und Wegweiser zugleich. Linda
verliert sich immer mehr in ihrer Untreue, aber Coelhos These ist, dass
es Situationen gibt, in denen man untreu werden muss, um sich danach
selbst wieder treu zu werden.
Wohl der Frau, der es ebenso geht und die dann einen ebenso
feinfühligen, verständnisvollen und wahrhaft
liebenden Ehemann an ihrer Seite weiß und irgendwann dann
auch spüren kann, wie Linda in diesem Roman.
(Winfried Stanzick; 09/2014)
Paulo
Coelho: "Untreue"
(Originaltitel "Adultério")
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann.
Diogenes, 2014. 320 Seiten.
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