Martín Caparrós: "Die Ewigen"
Der
Tod und die Telenovela ...
Martín Caparrós' Roman "Die Ewigen"
erzählt die Lebensgeschichte Nitos (zur Gänze Juan
Domingo Remondo), der sich daran zu erinnern meint, dass die
schönste Zeit seines Lebens der neunmonatige Aufenthalt im
Bauch seiner Mutter gewesen sei. Bereits der Tag seiner Geburt
wäre eine Enttäuschung gewesen, musste doch Juan
Perón genau an seinem Geburtstag sterben. Als wenn es nicht
gereicht hätte, dass die Feierlichkeiten zu seiner Geburt
nicht stattfinden konnten, muss er noch den Namen des verhassten
Diktators tragen. Durch die Trauerfeierlichkeiten am rechtzeitigen
Erscheinen behindert, stirbt sein Vater in einem Autounfall, was man
dem jungen Nito aber lange verschweigt. Ab diesem Punkt, meint der
gerissene, schelmenhafte Erzähler, ging es in seinem Leben
bergab. Natürlich wird es dadurch für den Leser aber
erst recht spannend.
Ab den ersten Zeilen dieses vielfältigen und spannenden Romans
versucht man sich in diesem Roman zurechtzufinden. Caparrós'
Prosa, übrigens von Sabine Giersberg kongenial
übersetzt, ist extrem wechselhaft, Schachtelsätze
wechseln sich mit kurzen bis extrem kurzen Sätzen ab, Derbheit
und Finesse überlassen einander oft innerhalb einer Zeile den
Vortritt. Diesem Erzählfluss ist am Anfang nicht leicht zu
folgen, wenn man sich aber innerlich vorliest, also quasi tonlos
vorliest, spürt man schnell den vertrackt fesselnden Rhythmus
dieser Prosa:
"Meine Mutter hatte sich eingeredet, sie würde nicht
schwanger, weil ihr Mann Spaß am Sex hatte. Ach ja, du
vielleicht nicht? Doch, aber das spielt keine Rolle; wenn wir ein Kind
haben wollen, müssen wir es anders machen, lag ihm meine
Mutter in den Ohren, und am Ende konnte sie ihn überzeugen; um
die Veränderung deutlich zu machen, hängte sie den
Spiegel der Kommode ab und hängte ein Kreuz mit dem leidenden
Jesus über das Kopfende des Bettes: Jetzt tun wir nichts
Schlechtes, nichts, was der Herr nicht sehen darf ..."
Nito, der einen ganz eigenartigen Charakter, wechselnd zwischen
furchtbar naiv und irrsinnig aufgeweckt, hat, erzählt aus der
Ich-Perspektive, er sinniert über seine Zeugung, die
Sexualität der Eltern, Dinge, von denen er nichts wissen kann,
über die Militärdiktatur, über die
möglichen Ursachen für das spurlose Verschwinden des
Vaters. Ist der Vater gestorben? Oder gar ein Held,
hinterhältig durch die Machthaber beseitigt? Ja, vielleicht
lebt er gar mit einer anderen Frau und einer anderen Familie irgendwo?
Eventuell sogar in der Nähe? Seine Mitschüler
quälen ihn, der mit seiner Mutter und ihrem neuen Freund Beto
aufwächst, zusätzlich; keinen
Papa zu haben ist für sie ein guter Grund dazu, einen spurlos
verschwundenen ein noch besserer.
Die Welt verstehen lernt Nito durch das Fernsehen. Da seine Mutter
fürchtet, bei den andauernd im Fernsehen laufenden Telenovelas
irgendetwas Wichtiges zu verpassen, muss Nito auch zusehen, aufmerksam,
jederzeit bereit, die Mutter über das Geschehen und die
vertrackten Verhältnisse der erfundenen Protagonistinnen und
Protagonisten zu informieren. So bildet sich sein Verständnis
der Welt. Und sein Wortschatz ...
Als er später erfährt, wie sein Vater zu Tode
gekommen ist, schreibt er dem Verursacher des Autounfalls einen Brief,
in dem er ihm einen detaillierten Krebstod prophezeit, der dann
interessanterweise auch pünktlich eintritt. Rasch versteht
Nito, dass er hiermit seine Berufung gefunden hat. Einer ausladenden
Karriere als Prediger und Todesprophet steht eigentlich nichts mehr im
Weg. Beschwörung des Todes als glänzendes Spektakel,
das natürlich ein absurder Halbwelt-Künstler
für seine Zwecke einsetzen will. Eine Kulturrevolution, nichts
Geringeres, soll dabei am Ende herausschauen.
"Es hatte sich herumgesprochen: Sie erwarteten meinen Besuch
wie den des Würgeengels, mit einer Mischung aus Furcht und
Faszination: Sie wünschten, ich möge an ihrer
Tür vorbeigehen, und zugleich fürchteten sie, ich
könnte sie nicht aufsuchen, und wenn ich sie nicht aufsuchte,
fragten sie sich, was sie verbrochen hatten - warum ich sie nicht
beachtete. Ich war der Würgeengel von Ituzaingó
Morón Haedo und der Umgebung."
"Die Ewigen" ist ein herrlicher, fast barock opulenter Roman, ein gar
nicht einmal so versteckter Entwicklungsroman, unterhaltend und
nachdenklich stimmend gleichzeitig, denn gerade die verspielt
vorgegaukelte Naivität ist nur ein künstlerisch
überzeugender Vorwand, die bedrückend blutige
Geschichte Argentiniens noch einmal aufzuarbeiten. Und das gelingt
Martín Caparrós auf eine höchst
beeindruckende und originelle Art und Weise, mit einem Roman, der dem
Leser, wenn man sich mit dem Sprachrhythmus anfreunden kann, am Ende
viel zu kurz erscheint. Und das ist bei 444 Seiten wirklich als Lob
gemeint.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 09/2014)
Martín
Caparrós: "Die Ewigen"
(Originaltitel "Los Living")
Aus
dem Spanischen von Sabine Giersberg.
Berlin Verlag, 2014. 444 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Wir haben uns geirrt"
Caparrós hat einen provokanten Roman über ein
längst nicht aufgearbeitetes Kapitel argentinischer Geschichte
geschrieben. Der Erzähler Carlos - gebrochen, zweifelnd,
einmal ätzend scharf, dann wieder melancholisch im Ton - ist
ein faszinierender, vielschichtiger Antiheld. Seine Geschichte ist die
einer (nicht nur argentinischen) Generation, die daran glaubte, die
Welt zu verändern, am Anfang eines gerechten Zeitalters zu
stehen, und kläglich gescheitert ist. Carlos' Kampf fand 1977
jäh ein Ende, als seine Frau verhaftet wurde. Ihr Schicksal
ist seitdem ungeklärt. Resigniert sieht er zurück,
zweifelt an den alten Idealen. Richtet er seinen Blick auf das heutige
Argentinien, packt ihn ohnmächtige Wut. Die Frage nach dem
Sinn politischer Militanz und Utopien, nach Aussöhnung oder
Vergeltung lassen ihn nicht los. Er trifft sich mit den Tätern
von damals - vermeintliche Sieger, die dennoch nicht unbeschadet aus
dem Krieg hervorgegangen sind. Dann stößt er auf die
Geschichte eines Pfarrers,
der den Folterern all abendlich den Segen
erteilte ...
Eine mutige Auseinandersetzung mit Argentinien und ein furioses
Stück Literatur. (Berlin Verlag)
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