Nadeem Aslam: "Der Garten des Blinden"
Über
die Nachwirkungen von 9/11
Nadeem Aslam, 1966 in Gujranwala, Pakistan, geboren, hat mit "Der
Garten des Blinden" seinen vierten Roman vorgelegt. Sein bereits
erstaunlicher Erstling "Season of the Rainbirds"
wurde bis heute noch nichts ins Deutsche übersetzt. "Atlas
für verschollene Liebende" und "Das Haus der fünf
Sinne" folgten. Und mit jedem Roman eine starke Steigerung zum
jeweiligen Vorgänger.
Die Handlung setzt 2001, nach dem 11.
September, ein und führt den Leser nach Pakistan.
Konkret in ein fiktives Dorf im Norden, in die Nähe
Afghanistans. In den Garten eines alten blinden Mannes, der eines Tages
Besuch von jemandem erhält, der sich als "Vogelbegnadiger"
ankündigt. Dieser möchte Fallen aufstellen, die
Vögel einfangen sollen, die wiederum später am Markt
zur Tilgung von Sünden freigekauft werden können. Der
Mann kehrt jedoch nicht zurück, und die Vögel sterben
leidend in ihren Fallen. Je weiter man diesen Roman liest, desto klarer
wird einem, dass die handelnden Personen dieses Romans ähnlich
wie die Vögel leiden. Alle irgendwie gefangen und
gequält.
Gleichzeitig mit der us-amerikanischen Besetzung Afghanistans breiten
sich die Fundamentalisten immer stärker aus. Das Dorfleben
leidet ebenso darunter, wie die liberale Schule des alten, blinden
Mannes Rohan. Sein Lebenswerk, das er noch mit seiner verstorbenen Frau
gegründet hat, ist dem Untergang geweiht. Um an richtiger
Stelle zu helfen, geht Rohans Sohn nach Afghanistan. Der Medizinstudent
wird von seinem Adoptivbruder begleitet.
Die beiden schaffen es allerdings nicht weit. Sie werden rasch von
einem berüchtigten Rebellenführer gefangengenommen.
Der Medizinstudent Jeo wird bei einem Angriff der US-Amerikaner
getötet. Sein Adoptivbruder Mikal überlebt,
gerät in Gefangenschaft, kann fliehen und gerät
wieder in Gefangenschaft. Für die eine Seite ist er ein
Verräter, für die andere ein Mitglied der
Al-Kaida-Terrorgruppierung. Er wird gefoltert und gequält, bis
er erneut fliehen kann. Dann, die Freiheit in Sicht, kommt es zu einer
tragischen Situation, bei der Mikal durch ein Missverständnis
zwei us-amerikanische Soldaten erschießt. Somit bleibt er auf
der Flucht, ohne Chance auf eine Wiedereingliederung in sein
früheres Leben.
Die im Dorf zurückgebliebene Frau des Medizinstudenten, die in
Wahrheit Mikal liebt, wartet nun auf dessen Rückkehr und wehrt
vehement alle Versuche ab, sie erneut zu verheiraten. Der alte blinde
Mann trauert bereits seit zwanzig Jahren um seine Frau Sofia, die vor
ihrem Tod den Glauben verloren hatte. Diese Handlungsstränge,
die vielleicht auf den ersten Blick nach einem banalen Abenteuerfilm,
oder gar einer mediokren Fernsehserie riechen, wären
wahrscheinlich in den Händen eines weniger talentierten Autors
möglicherweise auch nicht überzeugend gewesen. Nadeem
Aslam schafft es erfreulicherweise, jeglichen Hauch der
Banalität von seinem Roman fernzuhalten,
hauptsächlich durch seine Beherrschung der Feinmaschinerie der
Details (auch wenn ein paar wenige Szenen etwas misslungen sind) und
seine bestechende und präzise Prosa.
Nadeem Aslam schildert die Brutalität und den Schrecken des
Krieges mit teilweise schockierender Präzision; Szenen von
ungeheurer Schlagkraft stehen da, nicht immer ist es einfach,
weiterzulesen. Nichtsdestotrotz gibt es einen Ruhe- und
Schönheitspol, welcher der Grausamkeit
gegenübersteht: den Garten des alten blinden Mannes. Hier,
zwischen arabischen Dattelbäumen und Blauem Lotus, wachsen
auch spanische Mandelbäume, und farbenreiche Schmetterlinge
genießen das satte Grün der vielfältigen
Natur. Dieser Garten ist auch für die Protagonisten der
einzige ruhige Rückzugsort und im Gefüge des Romans
immens wichtig.
Der Autor zeigt sehr differenziert auf, wie rissig die vermeintlich
feste Haut des Islams ist, indem er Zweifler, Überzeugte und
Liberale mit- und gegeneinander agieren lässt. Er zeichnet ein
überzeugendes Bild von der Verseuchung des Fanatismus, die wie
eine Lavawelle alles um sich mitreißt.
Aslams Roman will sehr viel und schafft es auch, ein wirklich
großartiges Panorama einer uns zum Großteil fremden
Welt zu zeichnen. Einer Welt, die bei uns meist nur von einer Seite aus
bekannt ist. Möglicherweise ist in diesem großartig
von Bernhard Robben übersetzten Roman nicht alles aufgegangen,
was der Autor beabsichtigt hat. Das schmälert die Wichtigkeit
dieses vielschichtigen Buches allerdings überhaupt nicht.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 08/2014)
Nadeem
Aslam: "Der Garten des Blinden"
(Originaltitel "The blind man's garden")
Aus
dem Englischen von Bernhard Robben.
DVA, 2014. 432 Seiten.
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Weitere Bücher des Autors (Auswahl):
"Atlas für verschollene Liebende"
Ein pakistanisches Liebespaar verschwindet. Die Brüder des
Mannes werden kurz darauf verhaftet, und es kommt zum Prozess. Der
Vorwurf: Mord
aus
religiösen Gründen. Diese
Ereignisse erschüttern das Leben von Shamas, dem
ältesten der Brüder, und seiner Frau Kaukab zutiefst.
Beide scheinen verschollen zwischen zwei Kulturen, zwei Sprachen und
vor allem zwei Religionen. (rororo)
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"Das
Haus der
fünf Sinne"
Ein verwunschenes Haus am Rande der Tora-Bora-Berge. Allein harrt der
Brite Marcus Caldwell hier aus, obwohl seine afghanische Frau von den
Taliban getötet wurde und nun Spezialkräfte der
US-Armee auf der Suche nach Terroristen die Gegend unsicher machen.
Doch dann kommt die Russin Lara zu ihm, voller Hoffnung, ihren
während der sowjetischen Besatzung verschwundenen Bruder zu
finden. Im Gespräch der beiden enthüllt sich ein
furchtbares Familiendrama vor dem Hintergrund jener historischen
Tragödien, die Afghanistan seit mehr als vierzig Jahren
heimsuchen. (rororo)
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Weitere Buchtipps:
Khaled
Hosseini: "Traumsammler"
In "Traumsammler" erzählt Khaled Hosseini die bewegende
Geschichte zweier Geschwister aus einem kleinen afghanischen Dorf.
Pari
ist drei Jahre alt, ihr Bruder Abdullah zehn, als der Vater sie auf
einem Fußmarsch quer durch die Wüste nach Kabul
bringt. Doch am Ende der Reise wartet nicht das Paradies,
sondern die
herzzerreißende Trennung der beiden Geschwister, die ihr
Leben für immer verändern wird.
Ein großer Roman, der uns einmal um die ganze Welt
führt und in seiner emotionalen Intensität und
Erzählkunst neue Maßstäbe setzt.
Fesselnder, reicher, persönlicher als je zuvor. (S. Fischer)
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Conrad
Schetter: "Kleine Geschichte Afghanistans"
Kaum ein anderes Land ist politisch und kulturell so
vielfältig wie Afghanistan. Unterschiedliche Sprachen,
Ethnien, Glaubensrichtungen und Herrschaftsvorstellungen
behinderten
immer wieder die Schaffung einer nationalen Einheit und den Aufbau
eines Staates. Dieser Zersplitterung ist es aber auch zu
verdanken,
dass Afghanistan nie für längere Zeit von fremden
Mächten - seien es Briten oder Sowjets - beherrscht wurde.
Conrad Schetter schildert knapp die Geschichte des Landes von der
Antike bis zur Gegenwart. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt
auf den
letzten beiden Jahrhunderten, in denen sich die Spannungen immer
wieder
in Rebellionen, Umstürzen und Kriegen entluden. Nicht zuletzt
erläutert das Buch die besonderen Beziehungen zwischen
Afghanistan und Deutschland und warum Deutsche eine besondere
Rolle
beim Wiederaufbau des Landes spielen können. (C.H. Beck)
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Susanne Thiel:
"KulturSchock Afghanistan"
Fremde Kulturen sind uns oft doch nicht so vertraut, wie wir
dachten.
Die Bücher der Reihe "KulturSchock" skizzieren
Hintergründe und Entwicklungen, um heutige Denk- und
Lebensweisen zu erklären, um eine Orientierungshilfe im
fremden Alltag zu sein. Sie möchten dazu beitragen, dass wir
die Gesetzmäßigkeiten des Kulturschocks begreifen,
ihn ein wenig vorweg nehmen können und Vorurteile abbauen. Je
mehr wir voneinander wissen, desto besser werden wir einander
verstehen.
Afghanistan bemüht sich seit vielen Jahren, aus dem Schatten
des Krieges herauszutreten. Die junge Demokratie und alle
Wiederaufbau-Bemühungen werden von traditionellen
Machtstrukturen, Stammesdenken und Terrorismus bedroht. Der
"KulturSchock Afghanistan" stellt die widersprüchlichen Seiten
dieses Landes vor und hilft, die afghanische Gesellschaft und
das
Verhalten der Menschen besser zu verstehen. Der islamische
Alltag, die
Trennung der Geschlechter, der zentrale Begriff der Ehre und die
überwältigende Gastfreundschaft der Afghanen
gehören dazu.
Aus dem Inhalt: Afghanistan als Drehscheibe der Kulturen; "The
Great
Game" - die Kolonialzeit; Krieg am Hindukusch; Die
Drogen-Ökonomie; Ethnische Gruppen und Stammesstruktur; Die
Taliban-Herrschaft und ihr Fall; Religion und Weltbild - der
Islam,
Mystik und Schreinkultur; Purdah - oder die Ausgrenzung der
Frauen;
Hochzeit und Familienbande; Das mühsame Geschäft des
Wiederaufbaus; Die Wiederkehr von Kunst und Unterhaltung;
Deutschland
und Afghanistan. (Reise Know-How)
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