Aharon Appelfeld: "Auf der Lichtung"
Über den Wert des Lebens
Der 1932 in Czernowitz
geborene Aharon Appelfeld ist ein unermüdlicher Chronist der Schrecken
des Holocausts, seine Bücher sind literarische Mahnmale gegen das
Vergessen und für die Menschlichkeit. Mit jedem neuen Roman scheint er
einen neuen Anlauf zu starten, das Unfassbare, das Geschehene zu
dokumentieren.
"Auf der Lichtung" unterscheidet sich am Ende dann doch sehr von seinen
Vorgängern. Das liegt vielleicht auch daran, dass der Erzähler dieses
Romans ein halbwüchsiger Junge ist. Edmund, von seinen Eltern zur Flucht
ermuntert, schließt sich einer Partisanengruppe in der Ukraine an, die
mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen den übergroßen Feind
kämpft. Die Möglichkeit, sich wehren zu können, nichts unversucht zu
lassen, das ist die treibende Kraft in dieser bunt zusammengewürfelten
Gruppe, die Edmund dem Leser in seiner Erzählung näher bringt. Eine
Möglichkeit, die den Juden in den Zügen nicht gegeben ist.
Fast möchte man meinen, dass Aharon Appelfeld sich mit der Frage
auseinandersetzt, ob die lauernde Gefahr, die Gräuel der
Vernichtungsmaschinerie der Deutschen, über eine Gruppe von
ambitionierten und zusammenhaltenden Kämpfern auch zu etwas Gutem führen
kann.
Zügig und nüchtern treibt Edmund die nur im Ansatz tagebuchhafte
Erzählidee voran. Ein Text, der nur aus einem Grund geschrieben wird,
nämlich dem, später dazu zu dienen, das Geschehene den Eltern
weiterzuerzählen. Auch hier ein auffallender Unterschied zu früheren
Romanen des mittlerweile fast 82-jährigen Autors. Die Sprache dieses mit
vielen Dialogen gespickten Romans ist den Gegebenheiten angepasst und
wirkt so sehr authentisch, auch wenn alle Ansätze naiver Erklärungen
durch die Schrecklichkeit des über der Gruppe lauernden Schattens
relativiert werden.
"Jeden Tag hat sich der (Anm. deutsche) Kommandant eine neue Schikane
ausgedacht. Einmal ließ er ein Schwein auf den Platz führen und zwang
die Juden, um das Schwein herumzutanzen, sich vor ihm zu verbeugen und
es zu küssen. Alle bogen sich vor Lachen und warteten auf die nächste
Vorführung ... Der Kommandant kam zurück, und schon am Tag darauf
befahl er den Juden, in ihren Festkleidern auf dem Rathausplatz zu
erscheinen. Diesmal wurden sie zum Fluss getrieben, und man befahl
ihnen, ins Wasser zu gehen. Wer es nicht tat, wurde gestoßen. Unser
Fluss ist nicht breit, aber tief. Die Alten und die Kinder versanken
schnell, und wer versuchte zu schwimmen, wurde erschossen ..."
In der Gruppe gibt es Kommunisten, Atheisten, Darwinisten: das Kundtun
seelischer Eindrücke wird vom Kommandanten sogar explizit gefordert und
führt zu interessanten Diskursen und poetischen Relativierungen. Diese
Offenheit den Anderen gegenüber ist die geistige Nahrung in dieser
Gruppe, die alle Mitglieder brauchen, um ihre Stärken zum Vorteil für
die Gruppe werden zu lassen.
"Wenn Kamil über Stärkung und Freude des Herzens spricht, hat man den
Eindruck, dass er nicht mehr der Kommandant einer Kompanie von
Menschen ist, die ihre Familien verloren haben, sondern ein Denker,
der uns zu einer neuen, geistigen Stärke verhelfen will."
Aharon Appelfeld war um einige Jahre jünger als sein Protagonist Edmund,
als er bereits die Ermordung seiner Mutter miterlebt hat und über ein
transnistrisches Lager und durch die Wälder geflohen ist, um sich als
Küchenjunge der Roten Armee anzuschließen. Erst später kam er dann auf
Umwegen nach Palästina. Man kann also mit großer Sicherheit annehmen,
dass Aharon Appelfeld sehr viel persönliche Erfahrung in dieses Buch
einfließen hat lassen.
Die Lage spitzt sich immer stärker zu, die Gruppe bringt sogar Züge, die
mit Juden auf dem Weg in die Todeslager gefüllt sind, zum Entgleisen und
kann dadurch viele Leben retten.
"Auf der Lichtung" ist ein Roman, der, mit viel Symbolik ausgestattet,
ein grauenhaftes Kapitel unserer Geschichte nüchtern, unsentimental, mit
scharfer Beobachtungsgabe und einer scheinbar alle gängigen
literarischen Moden meidenden Sprache erzählt. Ein Roman, der, auch wenn
die teilweise eigenartig hochgestimmte Sprache immer wieder etwas schräg
anmutet, genau deshalb so überzeugend ist, weil er die Worte des jungen
Edmund auf fast biblisch anmutende Art und Weise verkündet.
Wenn der Leiter der Partisanengruppe seine Truppe dazu auffordert, den
Geist der Niedergeschlagenheit abzuwerfen, weil sich ein geschändetes
Volk diesen Luxus nicht leisten kann, offenbart sich des Autors
Vermögen, emotional zu treffen, ohne dabei auf Pathos oder
Sentimentalität zurückgreifen zu müssen. Die Übersetzung von Mirjam
Pressler ist ausgezeichnet geglückt und trägt sehr viel zur
literarischen Gewichtigkeit dieses Textes bei.
(Roland Freisitzer; 04/2014)
Aharon
Appelfeld: "Auf der Lichtung"
(Originaltitel "Ad chod haza'ar")
Aus dem
Hebräischen von Mirjam Pressler.
Rowohlt Berlin, 2014. 320 Seiten.
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Weitere Buchtipps:
David Cesarani: "Holocaust. Das Schicksal der Juden 1933 bis 1948"
Noch ein Buch zum Holocaust?
Ja, unbedingt. Es hat in den vergangenen Jahren eine Fülle neuer
Forschungen, Spezialstudien und Zeitzeugnisse gegeben, die kaum mehr zu
überblicken sind und einer fachkundigen Zusammenführung und
qualifizierten Gesamtdarstellung bedürfen. Diese legt der britische
Historiker und weltweit renommierte Holocaust-Experte David Cesarani
vor. Neben den neuen Erkenntnissen der Forschung erschließt Cesarani
umfangreiche Quellen aus Osteuropa, die erst nach dem Untergang der
Sowjetunion zugänglich wurden, sowie jüngst freigegebenes
Geheimdienstmaterial aus Ost und West. Daraus ergeben sich neue
Einblicke in das Ausmaß des Völkermords, das Wissen darüber seitens der
Deutschen wie der Alliierten, die Befehls- und Entscheidungsprozesse der
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europäischen Juden nicht allein der NS-Rassenideologie geschuldet war,
sondern vor allem als pervertiertes Instrument der Machtausübung,
Kriegführung und Eroberung diente. (Propyläen)
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Jozef Gitler: "Leben am
seidenen Faden. Tagebuch aus dem Austauschlager Bergen-Belsen"
Eingeleitet und kommentiert von Karl Liedke.
Vom Leben polnischer Juden im Austauschlager Bergen-Belsen vom Sommer
1943 bis zum April 1945.
Das heimlich geführte Tagebuch von Jozef Gitler spiegelt das Leben im
Sonderlager für polnische Juden in Bergen-Belsen zwischen Hoffen und
Bangen wider. Erstmals wird dieses Zeugnis in deutscher Übersetzung
veröffentlicht.
Im Sommer 1943 transportierte die SS etwa 2.500 Juden aus Polen nach
Bergen-Belsen, um sie gegen Deutsche, die vornehmlich auf dem Gebiet der
Westalliierten lebten, auszutauschen. Die meisten von ihnen besaßen
Ausweispapiere lateinamerikanischer Staaten, die diese jedoch nicht
anerkannten, so dass der Austausch nicht stattfand. Die Häftlinge wurden
daraufhin in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und
dort ermordet. 350 Häftlinge aus der Gruppe verfügten jedoch über
Palästina-Papiere. Sie blieben in Bergen-Belsen.
Die dokumentarisch gehaltenen Aufzeichnungen von Jozef Gitler sind das
früheste Häftlingstagebuch aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen.
(Wallstein)
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Abba Naor: "Ich sang für
die SS. Mein Weg vom Ghetto zum israelischen Geheimdienst"
Mit Helmut Zeller.
Als Abba Naor am 2. Mai 1945 bei Waakirchen befreit wird, weiß der
gerade Siebzehnjährige bereits mehr vom Tod, von Verzweiflung und
menschlicher Brutalität, als die kampferprobten us-amerikanischen
Truppen.
Er ist 13, als seine Familie in das Ghetto in Kaunas umziehen muss. Sein
älterer Bruder Chaim wird dort von der SS erschossen. 1944 wird die
Familie über die Memel in das KZ Stutthof bei Danzig deportiert. Abba
wird von seinem Vater getrennt und muss miterleben, wie seine Mutter und
der jüngerer Bruder nach Auschwitz-Birkenau abtransportiert werden. Er
sieht sie nie wieder. Abba meldet sich freiwillig für das Lager
Kaufering I, weil er dort seinen Vater vermutet. Die elf Außenlager des
Konzentrationslagers Dachau bei Kaufering/Landsberg waren die
fürchterlichsten in Süddeutschland. Ungefähr die Hälfte der 30.000
jüdischen Zwangsarbeiter für die deutsche Rüstungsindustrie kam zu Tode.
Nach der Befreiung findet er seinen Vater wieder.
1946 beschließt Abba Naor, nach Palästina zu gehen, wo er - nach einem
illegalen Einwanderungsversuch und Zwangsaufenthalt auf Zypern - 1947
ankommt. Er kämpft 1948 als Soldat im Unabhängigkeitskrieg und wird
später Mitarbeiter des Mossad. Dort ist er in den achtziger Jahren an
der Rettung der äthiopischen Juden beteiligt. (C.H. Beck)
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Marta
Kijowska: "Kurier der Erinnerung. Das Leben des Jan Karski"
Seit 2011 sein "Bericht an die Welt" erstmals auf Deutsch erschien, ist
Jan Karski auch im deutschsprachigen Raum dem Vergessen entrissen
worden. Mit diesem Buch legt Marta Kijowska die erste deutschsprachige
Biografie vor, die sein ganzes Leben erzählt, auch die frühen Jahre und
die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg.
Jan Karski wurde 1914 in Lodz geboren und hatte eine Diplomatenkarriere
vor sich, als die Wehrmacht Polen überfiel. Unter der deutschen
Okkupation wurde er zu einem der aktivsten Mitglieder der polnischen
Untergrundbewegung und zu einem ihrer wichtigsten Kuriere. Im Herbst
1942 wurde er auf einer speziellen Mission in den Westen geschickt. Er
sollte die polnische Exilregierung und die Alliierten über die Arbeit
des Untergrunds, aber auch über das Schicksal der polnischen Juden
informieren. Um einen möglichst glaubwürdigen Bericht zu liefern, ließ
er sich vorher ins Warschauer Ghetto und in ein Transitlager im Osten
Polens einschleusen. Doch seine Versuche, die Welt zu alarmieren,
blieben ohne Wirkung: Er wurde zwar in London u. A. von Außenminister
Anthony Eden und in Washington sogar von Präsident Franklin D. Roosevelt
empfangen, doch entweder schenkte man seinem Bericht keinen Glauben oder
man blieb gleichgültig. Schockiert und enttäuscht wollte Karski über
seine Erlebnisse nie wieder sprechen. Er ließ sich in Washington nieder,
wo er viele Jahre an der Universität Georgetown lehrte. Erst Ende der
1970er-Jahre gelingt es Claude Lanzmann, ihn für seinen Dokumentarfilm
"Shoah" vor die Kamera zu holen. Erneut betätigt Karski sich als Kurier,
diesmal als Kurier der Erinnerung. (C.H. Beck)
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Marie Jalowicz Simon:
"Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940-1945"
Berlin 1942: Die Verhaftung durch die Gestapo steht unmittelbar
bevor. Die junge Marie Jalowicz will leben und taucht unter.
Über 50 Jahre danach erzählt Marie Jalowicz Simon erstmals ihre ganze
Geschichte. 77 Tonbänder entstehen - sie sind die Grundlage dieses
einzigartigen Zeitdokuments.
Offen und schonungslos schildert Marie Jalowicz, was es heißt, sich Tag
für Tag im nationalsozialistischen Berlin durchzuschlagen: Sie braucht
falsche Papiere, sichere Verstecke, und sie braucht Menschen, die ihr
helfen. Vergeblich versucht sie, durch eine Scheinheirat mit einem
Chinesen zu entkommen oder über Bulgarien nach Palästina zu fliehen. Sie
findet Unterschlupf im Artistenmilieu und lebt mit einem holländischen
Fremdarbeiter zusammen. Immer wieder retten sie ihr ungewöhnlicher Mut
und ihre Schlagfertigkeit - der authentische Bericht einer
außergewöhnlichen jungen Frau, deren unbedingter Lebenswille sich durch
nichts brechen ließ.
Mit einem Nachwort von Hermann Simon, Sohn von Marie Jalowicz Simon,
Historiker und Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin - Centrum
Judaicum. (S. Fischer)
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