António Lobo Antunes: "Welche Pferde sind das, die da werfen ihren Schatten aufs Meer?"
Ein
melancholisches Meisterwerk
Nach dem zuletzt erschienenen Roman "Der
Archipel
der Schlaflosigkeit", der fast zeitgleich mit seinem
autobiografischen Roman "An den Flüssen, die strömen"
konzipiert und geschrieben wurde, kam die traurig stimmende Meldung,
dieser Roman, wäre sein letzter gewesen.
António Lobo Antunes schreibt seit nunmehr dreiundzwanzig
Romanen (dieser inkludiert) an einem umfangreich angelegten
Lebensroman, der in seiner Originalität und Vielstimmigkeit,
in seiner poetischen Sprache und selbstzerstörerischen
Intensität, seiner aufwühlenden Verarbeitung der
Geschichte und Portugals, Angolas und des Salazar-Regimes
seinesgleichen vergeblich sucht.
Der diesem Roman als Ausgangspunkt dienende Handlungsstrang,
Familienmitglieder, die sich am Sterbebett der Mutter einfinden, ist
Antunes pur. Eine Großgrundbesitzerfamilie, deren Glanz
längst matt geworden ist, ein patriarchalischer Vater: das
alles im Licht von Gewalt, Angst, Krieg und
Gefühlskälte.
Während in "Der Archipel der Schlaflosigkeit" so etwas wie
eine Auflockerung, eine Art erhöhter Lesefluss
spürbar wurde, der das Erfassen der verschiedenen Stimmen der
polyphonen Erzählstruktur trotz der typischen Antunes-Technik
einfacher und stringenter gemacht hat, scheint der Autor in diesem
Roman wieder seiner früheren Technik treuer zu sein, was den
Lesefluss abermals etwas sperriger macht.
Allerdings merkt man schon sehr bald, dass António Lobo
Antunes sehr bewusst daran gearbeitet hat, das Lesetempo zu drosseln
und die Aufmerksamkeit des Lesers bedingungslos einzufordern.
Die Familie der Oberschicht, die hier im Mittelpunkt des Geschehens
steht, ist längst nur mehr ein verzerrtes Spiegelbild einer
verkorksten Familie, die durch Gewalt und Kälte lediglich noch
auf dem Papier eine Art Zusammenhalt findet. Der Aufbau des Romans ist
in drei Teile aufgeteilt, die sich wie ein Stierkampf gliedern. "Vor
dem Stierkampf", "Tércio de Bandarilhas" und
"Todesstoß". Die Kinder der Familie sind zum Gegenteil dessen
geworden, was sich die strengen und privilegierten Eltern erhofft
hatten. Der eine Sohn wäre lieber ein Mädchen und
kauft sich billigste Stricher im Park; zusätzlich hat er sich
höchstwahrscheinlich mit HIV
angesteckt, so genau weiß er das nicht und will es auch nicht
wissen. Ein Sohn wird versteckt, er ist nur mehr eine geschundene
Karikatur eines Individuums, sein Ich versteckt unter Schichten der
Ignoranz seiner Umgebung. Eine Tochter ist bereits tot, an Krebs
gestorben, eine ist für den Vater eine Närrin, von
der man auch nicht viel mehr erfährt, eine andere ist
unauffindbar, man meint, sie sei bei der Geburt vertauscht worden, wo
sie jetzt ist, weiß niemand, obschon man meint, sie
wäre irgendwo als Prostituierte tätig. Das Anwesen
ist mit Hypotheken belastet, der ganze Schein ist nur noch eine
Luftblase, die der trinkende Vater im Kasino verspielt,
während die Mutter im Sterben liegt. Ihr Tod ist von den
Ärzten auf 18 Uhr vorausgesagt worden, und virtuos steuert der
portugiesische Autor seinen Roman auf diesen höchst
dramatischen Punkt zu, verdichtet die Erzählstruktur, verwebt
die Stimmen, lässt trügerische Vorstellungen
entstehen und entlarvt die schonungslose Gier und Lieblosigkeit der
Protagonisten, während er in diesem Roman den
Bewusstseinsstrom, der immer schon eine wichtige Rolle in seiner Prosa
gespielt hat, zu einer bisher in seinem Werk unübertroffenen
radikalen Wucht steigert. Der Bewusstseinsstrom wird zum Mittelpunkt
des Erforschens des eigenen Ichs, so radikal wie bisher noch nie.
Wer und was ist das
Ich? Ist es nicht von Anderen bewohnt, und bringt es nicht am
Ende, wenn es redet, gar nicht sich selber, sondern unbekannte Andere
zum Ausdruck? Diese Frage wird allen Familienmitgliedern in diesem
sprachmächtigen Kunstwerk immer wieder gestellt. So oft, bis
die Ungewissheit sie dazu bringt, sich an den Autor selbst zu wenden.
"Welche Pferde sind das, die da werfen ihren Schatten aufs Meer?" ist
ein faszinierender Roman, der hoffentlich noch immer nicht der letzte
Roman des großen Portugiesen ist. Wieder einmal kongenial von
Maralde Meyer-Minnemann übersetzt, ist es ein wahrhafter
Genuss, der lyrisch poetischen Prosa dieser großen Literatur
zu folgen. Noch lange nach dem Lesen dieses Romans sind die
assoziativen Bilder, Gerüche und Situationen fest im
Gedächtnis des Lesers verankert, so leicht kommt man nicht von
den Figuren los, die Antunes hier geschaffen hat. Auch wenn es fast
unmöglich scheint, so ist dieser Roman vielleicht doch die
Krönung des Schaffens dieses Autors, der eventuell in diesem
Jahr endlich von der ehrwürdigen Schwedischen Akademie
berücksichtigt wird ...
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 01/2014)
António
Lobo Antunes: "Welche Pferde sind das, die da werfen ihren Schatten
aufs Meer?"
(Originaltitel "Que Cavalos São Aqueles Que Fazem Sombra No
Mar?")
Deutsch von Maralde Meyer-Minnemann.
Luchterhand Literaturverlag, 2013. 445 Seiten.
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Weitere
Bücher des Autors:
"Kommission der Tränen"
Im Werk des weltberühmten Schriftstellers Lobo Antunes haben
die Kolonialkriege seines portugiesischen Heimatlandes schon immer
einen festen Platz. Nun geht er einen Schritt weiter und schreibt
über das postkoloniale Angola, über die Zeit nach der
Befreiung von der portugiesischen Herrschaft, als die damalige
kommunistische Regierung auf brutale Weise gegen Oppositionelle in den
eigenen Reihen vorging. Und es wäre kein Roman von Lobo
Antunes, dem Meister der Polyphonie, wenn es nicht viele
widerstreitende, melodische und rhythmisch sich abwechselnde Stimmen
wären, die von der "Kommission der Tränen" und ihren
fatalen Folgen erzählen und davon, wie ein Land seine Unschuld
verlor.
Cristina lebt in der Altstadt von Lissabon, in der Nähe des
Tejo, hin und wieder aber auch in einer psychiatrischen Klinik, denn
sie hört Stimmen, die ihr keine Ruhe lassen. Auch
Gegenstände und Pflanzen sprechen zu ihr, aber vor allem sind
es ihre frühen Erinnerungen, die sie nicht mehr loslassen. Sie
wurde in Luanda, der Hauptstadt Angolas geboren, ihr Vater war Mitglied
der MPLA, der marxistischleninistischen Befreiungsbewegung, die nach
der Unabhängigkeit des Landes an die Regierung kam. Ihre
Mutter, eine weiße Portugiesin, hat er in dem Nachtclub
kennengelernt, in dem sie als Tänzerin auftrat. Als es in den
späten Siebzigern zu grausamen "Säuberungen"
innerhalb der MPLA kam, mit Schnellgerichten, Folterungen und
Hinrichtungen, lud er schwere Schuld auf sich und floh später
mit seiner Familie nach Portugal. Damals war Cristina fünf
Jahre alt. Und doch kann sie nicht vergessen, wie manche der Opfer so
lange tanzten, sangen und lachten, bis sie für immer
verstummten.
Flirrende Erinnerungen, in denen die Grenzen zwischen Realität
und Fantasie verschwimmen, Traumgebilde und Halluzinationen, Wahrheiten
und Gegenwahrheiten zeichnen in Lobo Antunes' Roman ein düster
leuchtendes Bild Angolas und Portugals, das vielleicht stimmigste Bild
einer Zeit, die geprägt war von Schuld und Rache, von
Rassismus, Angst und Grausamkeit, einer Zeit, die bis heute nachwirkt.
(Luchterhand Literaturverlag)
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António
Lobo Antunes: "Einblick in die Hölle"
1973 kehrte Lobo Antunes aus dem Krieg in Angola
zurück, wo er als Militärarzt über zwei
Jahre lang schlimmstes Leid und Elend sah - und doch hat ihn nichts
darauf vorbereitet, was er nun als Psychiater in der Irrenanstalt
Miguel Bombarda erlebt. Erst hier bietet sich ihm ein "Einblick in die
Hölle". Auf der Fahrt von der südlichen
Algarveküste, wo er einen ärztlich verordneten Urlaub
verbrachte, zurück nach
Lissabon versucht er sich
darüber klar zu werden, was passiert ist. Als Kind schon
wollte er Psychiater werden, um die Erwachsenen besser zu verstehen,
aber von Verständnis ist er weiter entfernt denn je.
Abgrundtiefer Hass erfüllt ihn: auf die Ärzte,
die den Kranken
jede Würde nehmen, sie mittels Elektroschock und Insulinkoma
still stellen, statt ihnen zu helfen. Und Hass auf sich selbst, weil er
sich angepasst hat. Einen Tag und eine Nacht lang fährt er
durch Portugal, von der Küste durch die Berge und
Dörfer des Alentejo zu den Sümpfen vor der
Hauptstadt, und die Erinnerungen an die Klinik, an den Krieg, an seine
gescheiterten Beziehungen zu zwei Frauen, an seine beiden
Töchter stürmen immer ungeordneter auf ihn ein,
vermischen sich mit den Gerüchen, Farben und Formen der
Landschaft, bis die Grenze zwischen Realität und wahnhaften
Gewaltvisionen verschwimmt.
In seiner metaphernreichen und drastischen Sprache klagt Lobo Antunes
die Unmenschlichkeit des Menschen an und evoziert zugleich ein Sein
jenseits des Elends. Denn sein Hass speist sich aus einer unendlichen
Liebe zu seinem Land und den Menschen. (Fischer)
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"Mitternacht
zu sein ist nicht jedem gegeben"
Eine Frau Anfang fünfzig fährt für ein
Wochenende an den Strand. Das Ferienhaus ihrer Familie, an der
Atlantikküste nördlich von Lissabon gelegen, ist
verkauft worden, und sie möchte Abschied nehmen, ihren
Erinnerungen an die Kindheit, an die gemeinsamen Sommer dort
nachhängen. Doch die Vergangenheit bricht regelrecht
über sie herein, und der Kurzurlaub gerät ihr zur
Rückschau auf ihr Leben, zur Abrechnung über ihr
Leben. Da ist die gar nicht glückliche Ehe ihrer Eltern, deren
Gefühlskälte die Kinder geprägt hat; da sind
die drei Brüder mit ihren unterschiedlichen Schicksalen: einer
von Geburt an taubstumm, einer gezeichnet von seinem Einsatz im
Kolonialkrieg, der dritte und älteste stürzte sich im
Alter von achtzehn Jahren von einer Klippe. Und nun ist sie allein in
dem leeren Haus. Ihr Mann hat sie schon lange verlassen, sie ist
kinderlos, und ihr Beruf als Lehrerin füllt sie nicht mehr
aus. Ihr Dasein, erkennt sie, ist ihr mit den Jahren mehr und mehr zur
Last geworden. Am Ende führt ihr Weg sie zur Klippe
über dem brausenden Ozean, wo sie das Lächeln ihres
Bruders evoziert ... (Luchterhand Literaturverlag)
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