Thomas Klie: "Wen kümmern die Alten?"
Auf dem Weg in eine sorgende Gesellschaft
"Ich wünschte mir eine
Gesellschaft, die die Verantwortungsübernahme für den fremden
Nächsten zu einer Frage der Kultur, der Gesellschaft im Kleinen wie
im Großen, in der Nachbarschaft, im Quartier, im Hochhaus und im
Dorf macht." (Thomas Klie)
Wer schon einmal ein Pflegeheim betreten hat, der wird jene Erfahrung
gemacht haben, die sich nicht von der Hand weisen lässt. Es herrscht
eine merkwürdige Atmosphäre, alte Menschen sitzen wie in Wartesälen
herum. Und tatsächlich warten sie auch darauf, dass etwas passiert.
Meist ist es die Zeitspanne zwischen Frühstück und Mittagessen, zwischen
Mittagessen und Jause, zwischen Jause und Abendessen, die in
Warteposition verbracht wird. Dieses Warten kann zermürbend sein. Die
alten Menschen vermitteln selten einen fröhlichen Eindruck. Sie sind
Gäste auf Zeit in einem Heim, das vordergründig nur das Beste für sie
will. Aber ist das nicht ein ausgemachter Humbug? Wenn Menschen zur
Untätigkeit verdammt sind, in nicht wenigen Fällen mit Psychopharmaka
ruhig gestellt werden, dann ist dieser Aufenthalt im Heim nicht mehr als
eine Endstation, aus der es kein Entrinnen gibt. Jene alten Menschen,
die an ihre Betten festgezurrt werden, weil sie sich sonst angeblich
selbst gefährden, sind noch schlechter dran. Ein Pflegeheim ist oft kein
Zuckerschlecken für die Bewohner, außer es gibt Kaffee und Kuchen zum
Frühstück und zur Jause.
Thomas Klie legt einen eindrucksvollen Bericht vor. Es geht nicht nur um
Pflegeheime. Seine Aufforderung "Schafft die Pflegeheime ab!"
klingt provokativ, doch nach der Lektüre jener Erkenntnisse, die er
zusammengetragen hat, erscheint es gar nicht mehr abwegig, in diese
Richtung zu denken. Pflegeheime sind defizitorientiert. Sie haben im
Kalkül, die Defizite der Bewohner möglichst aufzufangen und damit einen
herzeigbaren Ist-Zustand herzustellen. Wenn dieses Ansinnen scheitert,
wird der Aufenthalt für die Betreffenden in der Pflegestation dauerhaft.
In Deutschland werden 2,5 Milliarden Euro für sogenannte
"Pflegedokumentation" ausgegeben. Das ist "verwaltete Pflege". Jeder
Handgriff, der dem "Pflegefall" abgenommen wird, ist zu dokumentieren.
Jeder dieser Handgriffe wird in Geld aufgewogen. Diese Ökonomisierung
der Pflege, wie sie in Heimen stattfindet, ist allein schon deswegen
absurd, weil dadurch soviel Geld buchstäblich beim Fenster
herausgeschmissen wird. Diese Milliarden Euro könnten beispielsweise
viel besser in sinnstiftende progressive Wohnformen für ältere Menschen,
alte Menschen und deren Nachbarn investiert werden. Angesichts des
administrativen Aufwands, der von den Pflegenden zu leisten ist, bleibt
für die eigentliche Pflege wiederum weniger Zeit. Da beißt sich die
Katze also in den Schwanz. Kein Wunder, dass die meisten alten Menschen
nicht das Ziel verfolgen, in einem Pflegeheim zu landen. Somit bleibt es
in vielen Fällen an den Angehörigen hängen, den Vater, die Mutter, den
Bruder, die Schwester daheim zu pflegen. Meist wird diese unbezahlte und
unbezahlbare Arbeit von Frauen geleistet. Der Einsatz dieser Frauen ist
oft vorbildlich, jedoch gesellschaftlich überhaupt nicht anerkannt.
Pflegende Angehörige opfern sich auf, nicht selten bis zu acht Jahre
lang. Diese Diskrepanz ist die Problematik, die das zu besprechende Buch
wie ein roter Faden durchzieht. Denn es gilt, einerseits den Stellenwert
von Pflegeheimen aufzuwerten, andererseits die Angehörigen zu entlasten.
Wie vorgehen?
Pflegeheime, so wie sie heutzutage großteils existieren, gehören
gründlich reformiert. Der Fokus soll darauf liegen, den alten Menschen
ein Leben zu ermöglichen, das ihren Vorstellungen entspricht. Auf die
individuellen Bedürfnisse der Menschen muss eingegangen werden. Wer sich
lieber zurückzieht und in aller Ruhe seinen Lebensabend genießen will,
der darf nicht gegen seinen Willen, wozu auch immer, animiert werden.
Die individuellen Bedürfnisse der Bewohner sind voll und ganz zu
respektieren. Das ständige Ausfüllen von "Pflegedokumentationen" kann
nicht mehr länger verpflichtend für die Pflegenden sein. Dadurch
entsteht Freiraum, der den Bewohnern des Pflegeheims Lebensqualität
verschafft. Pflegeheime können nach erfolgter Reformierung
ausgezeichnete Alternativen zur Heimpflege sein. Gleichermaßen ist
Menschen Anerkennung zu zollen, die sich um ihre nahen Verwandten
kümmern. Zum Einen dadurch, dass diese Aufopferung honoriert wird, zum
Anderen, indem es Stunden und Tage gibt, wo sich andere Menschen -
"Profis" oder Ehrenamtliche - um den zu Pflegenden kümmern.
Angesichts der zuletzt beschriebenen Aspekte mag nun der Bogen zu der
sorgenden Gesellschaft gespannt werden, der Thomas Klie besonders am
Herzen liegt. Was, wenn die Gesellschaft selbst jene Voraussetzungen
schafft, durch die alten
Menschen ein Leben in Würde und individueller Ausprägung
ermöglicht wird? Es gibt gerade in Deutschland dafür einige Beispiele,
die herausragend sind. Kleinstädte haben sich ganz dem Gemeinwohl und
der Sorge um den Nächsten, der dann eben kein Fremder mehr ist,
verschrieben. Alternative Wohnformen bringen Alt und Jung zusammen, die
Generationen lernen voneinander. Es werden Infrastrukturen geschaffen,
durch die jeder Mensch zum Gemeinwohl das beitragen kann, was in seinen
Möglichkeiten liegt. Diese progressiven Modelle einer Gesellschaft, in
der Pflegeheime - wie sie uns als Schreckgespenst vorschweben - nicht
mehr existieren, sind keine Fiktion, sondern wurden umgesetzt. Die
Entwicklung alternativer Wohnformen zeitigt ausgezeichnete Ergebnisse,
von denen Alt und Jung, Gesund und Krank profitieren.
Das Thema Demenz
ist gesellschaftspolitisch eines der wichtigsten der nächsten Jahre und
Jahrzehnte. Die Menschen werden immer älter. Und mit dem höheren Alter
wird die Wahrscheinlichkeit, an Demenz zu erkranken, höher. Im Grunde
ist es unmöglich, diese Tatsache zu negieren. Dennoch gibt es von Seiten
der Politik bislang nur wenige Ansätze, der Demenz jenen Stellenwert zu
geben, den diese insgeheim schon längst hat. Es gilt, diese Menschen zu
versorgen, ihnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Der Idee der
in manchen Ländern existierenden "Demenzdörfer", also so etwas wie
Alten-Gettos, kann Thomas Klie nichts abgewinnen. Allein die sorgende
Gesellschaft kann im Zusammenwirken der Kräfte jene Dynamik entwickeln,
durch die sich alte Menschen in einer liebevollen Gemeinschaft
aufgehoben fühlen. Dies kann nur erfolgen, wenn Strukturreformen
stattfinden.
Aufwertung der ehrenamtlichen Arbeit, Verbesserung der
Arbeitsbedingungen und adäquate Bezahlung für Menschen in pflegenden
Berufen, Schaffung von Berufsfeldern, die sich sozial, aktivierend,
begleitend der alten Menschen annehmen, Etablierung progressiver
Wohnformen und vieles mehr. Entscheidend ist, dass die Gesellschaft in
jener Eigenständigkeit bestärkt wird, mit der diese wichtige Zielsetzung
möglich ist.
Deutschland ist zweifellos in Europa Vorreiter, was die Etablierung von
progressiven Formen einer sorgenden Gesellschaft betrifft.
Nichtsdestotrotz gibt es viel zu tun, damit das von Thomas Klie
vorgestellte Modell Wirklichkeit wird. Schließlich geht es um ein
komplexes Thema, das nur zu Gunsten aller Beteiligten beschritten werden
kann, wenn sich Menschen aus den verschiedensten Betätigungsfeldern von
der Wissenschaft über die pflegende Praxis bis zur Politik zusammentun,
um das scheinbar "Unmögliche" möglich zu machen. Ein Blick in Richtung
des Nachbarlands Österreich verdeutlicht, dass dort noch weit mehr zu
tun ist. Es gilt also allerorts, im Grunde weltweit, die Ärmel
aufzukrempeln und zukunftsträchtige, an den Bedürfnissen des einzelnen
Menschen orientierte Strukturen zu schaffen, damit die von Björn Kern
als erschreckendes Zukunftsszenario beschriebene "Erlöser
AG" nie die volle Wirkung entfalten kann. Die Ökonomisierung des
Sozial- und Gesundheitsbereichs, und somit auch der Pflege, führt zu
einer Zweiklassengesellschaft, in der Bewohner von Seniorenresidenzen
und von Altersarmut betroffene Menschen einander diametral gegenüber
stehen. Es muss alles dafür getan werden, dass die Würde des - in diesem
Falle alten - Menschen keine Frage des Geldbeutels und des Besitzes ist,
sondern durch eine sorgende Gesellschaft buchstäblich gepflegt wird.
(Jürgen Heimlich; 01/2014)
Thomas Klie: "Wen kümmern die Alten? Auf
dem Weg in eine sorgende Gesellschaft"
Pattloch, 2014. 256 Seiten.
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Zwei Liens zum Thema:
http://www.freie-scholle.de
http://www.netzwerk-song.de
Prof. Dr. Thomas Klie ist Professor für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft an der Evangelischen Hochschule Freiburg und Privatdozent für Gerontologie an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Gerontologie, Vorstandsmitglied der Aktion Demenz e.V. sowie Vorstandsmitglied des Instituts für Qualitätssicherung in der Pflege (IQP). Er gehört dem Wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Alzheimergesellschaft an, dem Wissenschaftlichen Beirat des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes sowie dem Stiftungsrat Deutsche Hospiz und Palliative Care Stiftung.