Urs Widmer: "Gesammelte Erzählungen"
Lebensernte des Schweizer
Sprachmagiers
"Dies sind meine gesammelten Erzählungen, die man beinah die
sämtlichen nennen könnte." Urs Widmer, der wie kaum ein Zweiter
gleichzeitig beschwingte Worte und tiefgehende Gedanken meistert,
vollendete am 21. Mai 2013 sein 75. Lebensjahr. Der Diogenes-Verlag hält
editorische Rückschau über ein fünfundvierzigjähriges Schaffen beginnend
dem Erstling "Alois" (1968). Von den über 30 Texten erschienen die
meisten seit 1968 bei Diogenes, einige auch in verschiedenen
literarischen Zeitschriften, vor allem in den "Manuskripten" des "Grazer
Forums Stadtpark" und im "NZZ Folio" der "Neuen Zürcher Zeitung". Diese
versammelte die Literaturkritikerin Beatrice von Matt in diesem trotz
Dünndruckpapier imponierend voluminösen Band.
"Figuren nehmen Gestalt an, verformen sich, verwehen", schreibt
sie in ihrem informativen, gleichzeitig einfühlsam humorvollen Nachwort.
Dies ist die Widmer'sche literarische Umdeutung der philosophischen
Grundfragen nach dem Sinn des Lebens "Woher kommen wir? Wer sind wir?
Wohin gehen wir?". Sprachliche Beständigkeit und rascher, fliegend
leichter Wechsel sind über die Jahrzehnte zum Markenzeichen Urs Widmers
geworden.
Im Erzählungserstling "Alois" entfalten sich mehrere Erzählstränge und
Bilder, verschwinden wieder im erzählerischen Wellental, um unvermittelt
und unvermutet Seiten später wieder zum Vorschein zu kommen. Er verwebt
und verknüpft locker - ohne strenge Verknotung - Lebensbilder und
Erfahrungen der 60er-Jahre, Comic-Figuren und Kinoerlebnisse, damals
berühmte Radrennidole und ins allgemeine Bewusstsein einprägte
Zeitungsschlagzeilen, z.B. vom Unfalltod der belgischen Königin Astrid
am Vierwaldstätersee. Dieser literarischen Pop-Art
blieb er über viereinhalb Jahrzehnte treu.
Spätere Werke sind inhaltlich konsistenter, knüpfen zuweilen an Werke
der Weltliteratur an. "Liebesnacht" (1982), eine seiner längsten und
bekanntesten Erzählungen, die auch als eigenes 144-seitiges Buch
erschien, erzählt vom Erzählen: In jahrelang erprobter Geselligkeit
sitzen im Elsass Freunde beisammen. Unerwartet kommt aus dem
südamerikanischen Urwald der Ewige Egon zu ihnen gewandert und setzt
sich dazu. Alle trinken und erzählen aus ihrem Leben, von ihrer ersten
Liebe - so wie sechs Jahrhunderte zuvor zehn Florentiner Adlige in
Giovanni Boccaccios "Decamerone".
Am Ende der Nacht, des Innehaltens und des Teilens von Erfahrungen, geht
das Leben weiter: Auf zu neuen Abenteuern! Auch der Leser sollte sich
eingeladen fühlen, Neues zu erleben - insbesondere durch den angenehm
beschaulichen Duktus und den wohl komponierten und von Liebeserzählung
zu Liebeserzählung variierenden Stil. Wortkunst und Lebenskunst liegen
nahe beieinander!
Das Reisen in Zeit und Raum ist eine andere Komponente von Urs Widmers
literarischem Schaffen. "Aachen bis Zwieselstein" (1973) ist eine an ein
"Amtliches Verzeichnis der Ortskennzahlen für den Selbstwählferndienst"
geknüpfte Serie von Erinnerungen und Gedanken zu Orten vom schwedischen
Älmhult bis in den Vatikan.
Bei allem Loslösen von Alltagsgedanken und leichtfüßigem Abheben ins
Surreale bleibt die Sprache - trotz allem Misstrauen gegenüber
geradlinig geglaubter sprachlicher Kommunikation und oberflächlichem
Sinn - grammatisch und lexikalisch konsistent. Dada mag in der Schweiz
entstanden sein, ist aber von Urs Widmers Stil weit entfernt.
Die Ambiguität seiner Texte über Mobilität in Gedanken, Gefühlen und
zwischen Orten lässt hinter und mit dem Geschehen eine zweite Welt
entstehen, die aus dem Hier und Jetzt ins Imaginäre wächst - auch und
vor allem, wenn er wie in "Grappa und Risotto" (1996) eine nicht
ungewöhnliche Familie vor den geistigen Augen der Leserschaft
entstehen lässt.
Diese Sammelausgabe ist ein Muss für Widmer-Freunde und eine Einladung
für alle, die seinen sehr eigenen Schreib- und Denkstil kennenlernen
möchten. Wir hoffen auf weitere Erzählungen ab 2013!
(Wolfgang Moser; 07/2013)
Urs
Widmer: "Gesammelte Erzählungen"
Diogenes, 2013. 768 Seiten.
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Urs Widmer starb am 2. April 2014 im Alter von 75 Jahren nach schwerer Krankheit in Zürich.
Ein weiteres Buch des
Autors:
"Reise an den Rand des Universums"
"Kein Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine
Autobiographie" lautet der erste Satz. Urs Widmer hat die eigene
Warnung in den Wind geschlagen und ein großartiges Erinnerungsbuch
verfasst. Mit dreißig begann sein Leben als Schriftsteller. Die Zeit
davor bildet das Fundament seines Werks, und ihr ist dieses Buch
gewidmet, den Fakten und Erinnerungen, wie es "tatsächlich" war. Eine
persönliche Geschichte aus den für die Weltgeschichte so entscheidenden
Jahren 1938 bis 1968.
Das Besondere dieser Autobiografie: Sie hört da auf, wo andere
gewöhnlich anfangen. Urs Widmers Jahre als Kind, als junger Mann, als
Student, als Lektor. Elternhaus, Freunde, die ersten Lieben, seine Frau
May. Familiengeschichten und Familienmythen. Die Schule, die Lehrer. Die
Ferien, die Reisen. Basel, Montpellier, Griechenland, Paris. Banales wie
Dramatisches in einer Zeit, in der Geschichte geschrieben wurde: der
Zweite Weltkrieg, der
Kalte Krieg, die sechziger Jahre. Und immer wieder die Eltern,
die großen Schatten in seinem Werk. Auch wenn diese Erinnerungen oft von
Tragischem handeln, ihre Vitalität und Anschaulichkeit sind
unübertrefflich. (Diogenes)
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