Varujan Vosganian: "Buch des Flüsterns"


Geschichten vom Leid eines tapferen Volkes

Der Roman "Buch des Flüsterns" des 1958 im rumänischen Craiova in einer armenischen Familie geborenen Autors Varujan Vosganian ist ein Text von epischer Größe. Eine schier unfassbare Sammlung von Geschichten, die hier komprimiert auf 509 Seiten anhand von Einzelschicksalen die Geschichte der Armenier und ihres Leides nacherzählt.

Ausgehend von den Massakern in Trapezunt (heute Trabzon) 1895/96, führen die ungefähr hundert Jahre umspannenden Geschichten, die Varujan Vosganian hier quasi nacherzählt, bis hin zur Ermordung des armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink durch einen aus Trabzon stammenden Attentäter, wodurch Varujan Vosganian den Kreis seines Romans elegant schließt.

Es sind Geschichten, die seine Großväter erzählt haben, bei Familienzusammenkünften. Geschichten, die, in einer Art patriarchalisch-orientalischem Erzählton gehalten, auf besonders eindringliche Weise die einzelnen Schicksale beleuchten, die symbolisch für das Leid und die zähe Widerstandskraft der Armenier sind.

"Andere Begleiter meiner Kindheit waren die Gerüche. Von allen Sinnen wird der Geruch am stärksten vom Gedächtnis beladen. Es genügt schon, dass man eine Tür öffnet, durch die ein Familienduft weht, und sämtliche Geschehnisse, die sich damit verbinden, fallen einem wieder ein. Ein ganzes Leben könnte anhand seiner Geruchsaromen beschrieben werden. Ebenso könnte meine Kindheit erzählt werden."

Und so erzählt der Ich-Erzähler von seiner Kindheit: von den Geheimnissen des Trocknens des Rindfleischs im Wind und dem Mahlen und Rösten der Kaffeebohnen wandern die Erinnerungen an die Kindheit. Weiter geht es über die Geschichte General Dros, eigentlich Drastamat Kanayan, der während der kurzen Unabhängigkeit Armeniens Verteidigungsminister und nach der sowjetischen Übernahme Armeniens nach Rumänien geflohen war.  Verschiedene Entscheidungen des Generals, wie die Hoffnung auf deutsche Hilfe für Armenien nach dem Endsieg, erwiesen sich als trügerisch und letztendlich unvorteilhaft für die armenische Bevölkerung in Rumänien, als die Sowjetunion nach Kriegsende hier das Ruder übernahm. Armenier wurde entweder nach Sibirien verbannt oder erschossen. Den General suchte man vergeblich, er schaffte es, über den Libanon in die Vereinigten Staaten zu flüchten, wo er 1956 starb.

Oder Sahag Seitanian, der sein Leben lang mit der Schuld kämpft, als einziges Mitglied seiner Familie das Martyrium der Todesmärsche durch die syrische Wüste überlebt zu haben. Einzig deshalb, weil ihn seine Mutter voraussehend Beduinen als Arbeiter übergeben hatte. Später gelingt ihm die Flucht nach Rumänien, die ihn allerdings nicht vom Hören der Stimmen der Ermordeten erlöst.

Auch die abenteuerliche Geschichte des armenischen Kaufmanns Hartin Fringhian wird erzählt, der auf Umwegen nach Rumänien flüchtete und dort ein Zuckerimperium aufbauen konnte. Zusätzlich baute er auch die Häuser für seine Arbeiter. Seine Angestellten bedachte der kinderlos gebliebene Fringhian in seinem Testament, das wiederum die Sowjets außer Kraft setzten, da sie sein Eigentum nach dem Krieg einfach verstaatlichten. Er konnte in letzter Sekunde vor dem Transport ins Arbeitslager fliehen und verbrachte die Zeit bis nach Stalins Tod als Schafhirte in den Bergen. Bei dieser Tätigkeit trug er immer seinen letzten Anzug, bis dieser komplett zerschlissen war. Nach Stalins Tod kehrte er zurück und konnte seinen Lebensabend vom Einsammeln von Walnüssen und dem Backen von Salzkeksen bestreiten.

"Mehr als zwei Jahrzehnte haben Hartin Fringhian und sein Testament miteinander gelebt. Als es abgefasst wurde, im August 1938, konnte Hartin Fringhian noch nicht wissen, dass sein Testament mit ihm sterben würde und dass das großzügigste Testament, das im 20. Jahrhundert auf rumänischem Gebiet erdacht worden ist, sich nicht nur als zu großzügig erwies, als dass andere Menschen ihm hätten folgen können, sondern auch zu großzügig, als dass die Zeitläufe es hätten fassen können."

Mit diesen und unzähligen anderen Geschichten von literarisch erfundenen oder geschichtlich nachweisbaren Figuren im blutigen zwanzigsten Jahrhundert webt Varujan Vosganian einen wunderbar mitreißenden literarischen Sog, dem man sich weder entziehen kann noch will. Trotz der vielen Geschichten, die die Seiten vom "Buch des Flüsterns" besiedeln, ergibt sich ein stringenter Aufbau dieses Romans, dessen roter Faden symbolisch das vergossene Blut der Armenier im 20. Jahrhundert ist. Der dramaturgische Aufbau wird durch die Erzählstruktur virtuos genährt, sodass man nie auch nur annähernd das Gefühl hat, Stückwerk zu lesen.

In ausgezeichneter Übersetzung durch Ernest Wichner sollte dieser Roman, der auch eine überzeugende literarische Dokumentation von vergessenem Unrecht in Rumänien nach dem Zweiten Weltkrieg ist, starke Resonanz finden und seinen Platz in der Literaturgeschichte einnehmen, als zeitgenössisches Pendant zu Franz Werfels "40 Tage des Musa Dagh".

Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 12/2013)


Varujan Vosganian: "Buch des Flüsterns"
(Originaltitel "Cartea soaptelor")
Übersetzt aus dem Rumänischen von Ernest Wichner.
Zsolnay, 2013. 509 Seiten.
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Varujan Vosganian verbrachte seine Kindheit und Jugend in Foçsani. Von 2006 bis 2008 war er rumänischer Finanz- und Wirtschaftsminister, seit 2013 ist er wieder Wirtschaftsminister. Präsident der Vereinigung der Armenier.

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Über den couragierten Dokumentaristen des Genozids an den Armeniern.
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