Thomas von Steinaecker: "Das Jahr, in dem ich aufhörte mir Sorgen zu machen und anfing zu träumen"
Ein durchaus
aussagekräftiges Porträt unserer Gegenwart
Die ich-erzählende Hauptfigur dieses Romans, Renate Meißner, sieht einen
großen Teil der Welt als Risikoberechnungsmaschine; eine Perspektive,
die ihr in ihrem Beruf als Versicherungsangestellte im Bereich der
Akquise gut zu Gesicht steht. Nur ihr Privatleben und ihre damit
verbundenen Träume in der Nacht kann sie nicht mit diesen kalkulierenden
Augen sehen, weswegen sie ihre Emotionen und ihre Traumfähigkeit mit
wechselnden Chemikalien in erstaunlich großen Mengen in Schach hält.
Gerade eben ist sie nach einer missglückten Liebesbeziehung mit einem
Vorgesetzten in der Frankfurter Zentrale in ihre Heimatstadt München
zurückgekehrt und versucht in der dortigen Firmenzentrale in einer
gehobenen Position Fuß zu fassen.
Dort wird sie zunächst einmal, neben der Aufarbeitung einiger
Karteileichen, einem Controller zugeordnet, der mit allen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Filiale Evaluationsgespräche
führt. Eine Stellung, die sie bei einem Teil der neuen Kolleginnen und
Kollegen sicherlich erst einmal verdächtig macht. Daneben versucht sie,
wieder mit einer alten Freundin namens Lisa, die sich in der für Renate
etwas irritierenden Kunstszene bewegt, Zeit zu verbringen. Unerwartet
wird sie in irgendwelche Aktionskunstprojekte mit eingebunden, die sie
zunehmend verwirren, genau wie die unklaren Beziehungsbotschaften, die
ihre Freundin ihr zu senden scheint. Und dann verdankt sie gerade dieser
Szene zwei wichtige Aufträge, die ihr ganzes weiteres Leben verändern
sollen.
Der eine Auftrag, der ausgerechnet direkt mit
der Münchener Kunstszene zu tun hat, führt zu einer Empfehlung für
einen Auftrag in Samara, einem Gebiet in der Nähe Moskaus,
wo ein neuer futuristischer Vergnügungspark erbaut werden soll. Die
Inhaberin des betreffenden Unternehmens heißt Wasserkind mit Nachnamen,
ist selbst deutschstämmig, und nach Fotos, die Renate sieht, könnte sie
ihre vor Jahren verschollene Großmutter sein. Mit dem Wunsch, beruflich
fest Fuß zu fassen und nach dem kürzlichen Tod der Mutter eine weitere
Verbindung zu ihrer persönlichen Familiengeschichte zu knüpfen, macht
sich Renate auf den Weg in eine Welt, in der sie sich nur eingeschränkt
mit ihrem Risikoabwägungsdenken zurecht findet und ihr "Blackberry",
einer ihrer wichtigsten psychologischen Anker, nur sehr eingeschränkt
funktioniert.
Es ist wirklich nicht leicht, sich in die Denk- und Wahrnehmungswelt der
Protagonistin Renate Meißners einzulesen, und lange Zeit kann man sich
schon mit dem Gedanken tragen, warum man dies überhaupt tut. Aber als
ihr zweiter Auftrag sie dann nach Russland führt und sie dort ihr
bisheriges Leben in Frage stellen muss, ohne dabei aber ihre
Gedankensprache zu ändern, bekommt das Buch einen neuen und
überraschenden Reiz. Nach und nach wird deutlich, warum ihre Wahrnehmung
so ist, wie sie ist, und ihre vielen Zitate einer Reihe von
Popkulturelementen lässt erkennen, dass ihr Lebenshintergrund nicht so
geradlinig verlaufen ist, wie es ihre erzählerischen Gegenwart vermuten
lässt.
Etwas kafkaesk,
mit Einsprengseln von magischem Realismus, sieht man in "Das Jahr, in
dem ich aufhörte mir Sorgen zu machen und anfing zu träumen" die Liebes-
und Lebenswelt eines Menschen durch die
versicherungstechnisch-kalkulatorische Brille und staunt, wie diese
Perspektive auch das eigene Denken weiter öffnen kann. Aber man muss als
Leser Einiges dafür tun. Doch etwas, das man sich erarbeitet hat, zeigt
eher Tiefenwirkung, als Dinge, die einem sofort zugänglich sind. Das
gilt hier besonders.
(K.-G. Beck-Ewerhardy)
Thomas
von Steinaecker: "Das Jahr, in dem ich aufhörte mir Sorgen zu
machen und anfing zu träumen"
Fischer, 2014. 389 Seiten.
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Ein weiteres Buch des
Autors:
"Die Verteidigung des Paradieses"
Thomas von Steinaecker schreibt einen atemberaubenden Roman über die
Zukunft unserer Gegenwart: literarisch virtuos, philosophisch radikal
und zutiefst berührend.
Er möchte ein guter Mensch sein. Aber Heinz lebt in einer Welt, die
Menschlichkeit nicht mehr zulässt. Deutschland ist verseucht und
verwüstet, Mutanten streifen umher, am Himmel kreisen außer Kontrolle
geratene Drohnen. Zusammen mit seinem besten Freund, einem elektrischen
Fuchs, dem Fennek, wächst Heinz in einer kleinen Gruppe Überlebender in
den Bergen auf.
Er nimmt sich vor, die verlorene Zivilisation zu bewahren, sammelt
vergessene Wörter und schreibt die Geschichte der letzten Menschen. Doch
was nützen Heinz Wissen und Kunst jetzt noch? Da gibt es plötzlich das
Gerücht, weit im Westen existiere ein Flüchtlingslager. Und die Gruppe
bricht auf zu einem mörderischen Marsch ins vermeintliche Paradies
... (S. Fischer)
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