Daniel Everett: "Die größte Erfindung der Menschheit"
Was mich meine Jahre am Amazonas über das Wesen der Sprache gelehrt haben
Sprache als
kulturspezifisch optimiertes Werkzeug
Es gibt kaum eine Fertigkeit des Menschen, die uns selbstverständlicher
erscheint als die Sprache und ihr Gebrauch. Viele sehen das Beherrschen
der Sprache als die Eigenschaft an, die den Menschen gegenüber den
Tieren, auch seinen nächsten Verwandten, auszeichnet. Über Entstehung
und Natur der Sprache jedoch gibt es unter den Forschern teils sehr
unterschiedliche Ansichten.
Über viele Jahre hat Daniel Everett die Sprachen der indigenen Völker am
Amazonas studiert, insbesondere der Pirahā, mit denen er über längere
Zeiträume lebte. Dieses Zusammenleben ermöglichte ihm auch einen tiefen
Einblick in die Kultur der Pirahā und in die Unterschiede zwischen der
Denkweise der am Amazonas lebenden Menschen und der unsrigen, sprich,
der so genannten zivilisierten Kulturen. Seine Erkenntnisse stehen zum
Teil im Widerspruch gegenüber den Thesen berühmter Linguisten wie Noam
Chomsky, doch Everett kann sie anhand logischer Gedankengänge und Belege
begründen.
Everetts Buch besteht aus vier Teilen. In "Probleme" zeigt er auf, warum
er Sprache als Summe von Kognition, Kultur und Kommunikation ansieht.
"Lösungen", der zweite Teil, sucht nach einer Erklärung für die Vielfalt
der Sprachenwelt unserer Erde, und zwar über deren Aufbau und
Plattformen - die physische Plattform, den Körper, und die kognitive. Im
dritten Teil, "Anwendungen", setzt sich Everett mit den Ideen von
Aristoteles auseinander und beschreibt und erläutert Sprache schließlich
hinsichtlich ihrer Funktion als ein Werkzeug, das genau auf seinen Zweck
und seinen Bediener, Angehörige der jeweiligen Kultur, zugeschnitten ist
und einem Kulturwandel stets angepasst wird. Dies vertieft er im
letzten, "Variationen" betitelten Teil seines Buchs, in dem er nicht
zuletzt die gegenseitige Einflussnahme von Sprache, Kultur und Denken
untersucht und zum Abschluss einige Besonderheiten einzelner Sprachen
präsentiert, die den Linguisten vor Rätsel stellen.
Der spannende Unterschied zwischen Everetts Auffassung von Sprache und
jener der berühmten Linguisten wie Chomsky
oder Stephen Pinker liegt darin, dass die Letztgenannten eine Art
Welt-Sprache voraussetzen, aus der alle Sprachen hervorgehen, sodass
letztlich auch deren Syntax und Grammatik verwandt seien trotz der nicht
zu leugnenden jeweiligen Affinität zu bestimmten Kulturen; Everett
hingegen sieht die Sprache als spezifisches Produkt der ihr zugehörigen
Kultur, als ein gleichwertiges Werkzeug gegenüber den dinglichen
Werkzeugen, und verortet sie zudem weniger an bestimmten Arealen des
Gehirns, sondern sieht sie als ein Ergebnis der Kognition.
Sehr viel Wert legt er, wie der Titel bereits verrät, auf seine eigene
Forschung an der Sprache und Kultur der indigenen Völker am Amazonas,
insbesondere der Pirahā, und er zeigt aufwändig, auch mittels Diagrammen
und Tabellen, auf, wie das Pirahā und verwandte Sprachen im Vergleich zu
europäischen Sprachen "funktionieren". Die offensichtlich eklatanten
Unterschiede, etwa die fehlenden Farb- und Zeitbegriffe der
Pirahā-Sprache oder auch das Fehlen von so genanntem
"Smalltalk" bei diesem Volk, führt er auf kulturelle Eigenheiten
zurück, die wiederum aus der Lebensweise hervorgehen.
Everett versteht es, auch relativ trockene wissenschaftliche Analysen
anschaulich und packend darzustellen, sodass dieses Buch auch für
Nicht-Linguisten, die am Thema
Sprache interessiert sind, eine gut verständliche und kurzweilige,
dabei ausgesprochen informative Lektüre darstellt.
Während gerade der Aspekt der Syntax eine sehr ausgiebige Betrachtung
erfährt, widmet sich Everett nur flüchtig der frühkindlichen
Sprachentwicklung und der sprachlichen Prägung im Allgemeinen.
Recherchiert man im Internet, so zeigt sich, dass Everetts Thesen
durchaus auf Widerspruch und Widerlegungsversuche namhafter Linguisten
stoßen, deren Autoren nicht zuletzt zu dem Schluss kommen, dass Everetts
"Paradepferd", das Pirahā, keineswegs eine so außergewöhnliche Sprache
sei, wie der Autor annimmt. So sollte sich der Leser der Tatsache
bewusst sein, dass hier keineswegs allgemein gültige Antworten auf die
besprochenen Fragen vorgelegt werden, sondern eben eine weitere Theorie,
die in der Zukunft bestätigt oder verworfen werden wird. Lesenswert ist
das Buch definitiv, zumal es erstaunliche und, wiewohl von Europäern und
Nordamerikanern als primitiv angesehene, durchaus komplexe Kulturen
präsentiert, dem Leser die dazu gehörigen Sprachen näherbringt und
beides in Beziehung zu unserer Kultur und Sprachfamilie setzt.
(Regina Károlyi; 07/2013)
Daniel Everett: "Die größte Erfindung der
Menschheit.
Was mich meine Jahre am Amazonas über das Wesen der Sprache gelehrt
haben"
(Originaltitel "Language: The Cultural Tool")
Übersetzt von Harald Stadler.
DVA, 2013. 463 Seiten.
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Daniel Everett, geboren 1951
in Kalifornien, ist ein us-amerikanischer Sprachwissenschaftler. 1977
reiste er zum ersten Mal als Missionar zu den Pirahã in
das brasilianische Amazonasgebiet, widmete sich jedoch bald nur
noch der Erforschung ihrer Sprache und Kultur.
Ein weiteres Buch des Autors:
"Das glücklichste Volk. Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am
Amazonas"
Vom Missionar zum Bekehrten.
Als Daniel Everett 1977 mit Frau und Kindern in den brasilianischen
Urwald reiste, wollte er als Missionar den Stamm der Pirahã, der ohne
Errungenschaften der modernen Zivilisation an einem Nebenfluss des
Amazonas lebt, zum christlichen Glauben bekehren. Er begann die Sprache
zu lernen und stellte schnell fest, dass sie allen Erwartungen
zuwiderläuft. Die Pirahã kennen weder Farbbezeichnungen wie rot und gelb
noch Zahlen, und folglich können sie auch nicht rechnen. Sie sprechen
nicht über Dinge, die sie nicht selbst erlebt haben - die ferne
Vergangenheit also, Fantasieereignisse oder die Zukunft. Persönlicher
Besitz bedeutet ihnen nichts.
Everett verbrachte insgesamt sieben Jahre bei den Pirahã, fasziniert von
ihrer Sprache, ihrer Sicht auf die Welt und ihrer Lebensweise. Sein Buch
ist eine gelungene Mischung aus Abenteuererzählung und der Schilderung
spannender anthropologischer und linguistischer Erkenntnisse. Und das
Zeugnis einer Erfahrung, die das Leben Everetts gründlich veränderte.
(Pantheon)
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Noch ein
Lektüretipp:
Philippe Descola: "Leben und Sterben in Amazonien. Bei den
Jívaro-Indiandern"
Der Stamm der Jívaro-Indianer lebt im Amazonasbecken an der Grenze
zwischen Ecuador und Peru. Mit diesem unbekannten Volk macht uns
Philippe Descola in seinem ersten großen Werk vertraut, das auf
beeindruckende Weise verstehende Beobachtung und brillante Erzählkunst
verbindet.
Ermuntert und unterstützt von seinem Lehrer Claude Lévi-Strauss, hat
Descola sich mit seiner Gefährtin Anne-Christine Taylor auf das
Abenteuer einer Reise zu den verstreut im Urwald lebenden Indianern
eingelassen. Drei Jahre bleibt er dort und erlernt im Alltag, den er mit
seinen Gastgebern teilt, deren Sprache, Rituale und Regeln des
Zusammenlebens. Kunstvoll verbindet Descola die Beschreibung der Jívaro
mit ebenso poetischen wie philosophischen Reflexionen über die
Ausbreitung der modernen Zivilisation, über das Handwerk des Ethnologen
oder über den Verlust des Zeitgefühls im Dschungel.
Mit seinem Buch über die Jívaro hat Philippe Descola ein Meisterwerk
geschaffen. (Suhrkamp)
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