Hans Sahl: "Der Mann, der sich selbst besuchte"

Erzählungen und Glossen


Beredte Zeugnisse eines Philanthropen

Hans Sahl, 1902 in Dresden geborener Schriftsteller, Theater- und Literaturkritiker jüdischer Abstammung, schon früh von den Idealen des Kommunismus infiziert, dem er später jedoch wieder abgeschworen hatte, flüchtete 1933 vor den Nazis aus seiner deutschen Heimat via Paris und Lissabon in die Vereinigten Staaten von Amerika. Von dort kehrte er erst 1989 nach Europa zurück, nach Tübingen zu seinen alten deutschen Wurzeln, wo er die letzten Jahre bis zu seinem Tod 1993 verlebte. Mehr als ein halbes Jahrhundert lebte Hans Sahl also im Exil. Doch bereits 1964 schrieb er in seiner Glosse "Gast in fremden Kulturen", die im vorliegenden Band enthalten ist: "Vielleicht werde ich doch noch als ein lebenslänglicher Gast in die Bundesrepublik zurückkehren."

Im nun erschienenen vierten und letzten Band der Luchterhand-Werkausgabe finden sich zum Einen sämtliche Erzählungen Hans Sahls, zum Anderen eine breite Auswahl seiner Glossen wieder. Die Texte datieren von 1922 bis 1991. In seinen Erzählungen erleben wir Hans Sahl als einen scharfen Beobachter, der seine Beobachtungen pointiert und witzig herüberbringt. Viele dieser Erzählungen sind mit autobiografischen Reflexionen und Erinnerungen angereichert, wie zum Beispiel "Immer wenn der Kronprinz kam", oder "Humanität verkapselt". Zu einem nicht geringen Teil sind Hans Sahls Texte direkt aus der Ich-Perspektive geschrieben. Und so erzählt Hans Sahl authentische, tief im Realismus wurzelnde Geschichten, die meist nur wenige Seiten umfassen und sich neben ihrer thematischen Vielfalt durch einen feinsinnigen Humor auszeichnen. Manchmal wirken diese Geschichten erstaunlich modern wie die "Vom Manne, der nicht mehr reden wollte", worin Hans Sahl die damals (1965) modernen Medien als "seelische Klimaanlagen" bezeichnete, "die jedes Gespräch überflüssig machen."

Doch bewegender noch als die Erzählungen waren für mich die Glossen Hans Sahls, Theater-, Film-, und Literaturkritiken sowie Gedanken zu aktuellen Themen der damaligen Zeit. Bereits 1926 ahnte er das heraufdämmernde Dritte Reich voraus: "Tief unten auf dem Boden der deutschen Gesellschaft schlummern Instinkte, die darauf warten, an die Oberfläche zu kommen und die bereits in Romanen wie 'Der Drachentöter' oder 'Wieland, der Schmied' sehr erschreckenden Ausdruck gefunden haben." Die Humorlosigkeit im Dritten Reich nimmt er in einer Glosse von 1935 aufs Korn: "Nein, in diesem Deutschland ist kein Platz für Menschen, die von der Kunst leben, andere zum Lachen zu bringen. In diesem Deutschland gibt es nur verkniffene Gesichter, Heuchelei und jenen tierischen Ernst ..." Des Weiteren finden sich beachtenswerte Gedanken über Liebe, Geschlechtstrieb und Lustbeschaffung, über die Macht und den Wert des Zweifels, über den Provinzialismus in der frühen Bundesrepublik, über Religion und Mystik und nicht zuletzt über die Unfähigkeit des Autors, zu hassen: "Vielleicht ist mein Gefühl für die Anfälligkeit der menschlichen Natur schuld daran, dass ich ein schlechter Hasser geworden bin. Ich habe meine eigene Immunität dem Bösen gegenüber stets als einen Glücksfall betrachtet, auf den ich mir nicht sonderlich viel einbildete. Ich bin immer nur ein Opfer gewesen und deshalb auch nicht in Versuchung gekommen, mit dem Bösen Kompromisse einzugehen." Und auch "Zur Situation der Intellektuellen in unserer Zeit" (um 1990) weiß Hans Sahl mit seinem psychologisch wie historisch fundierten Einfühlungsvermögen Bemerkenswertes zu sagen. Sahls Gedanken sind dabei oft von aphoristischer Kürze und Aussagekraft, wie beispielsweise seine Einstellung zum Kompromiss, der für Sahl "nicht eine Schwäche ist, sondern ein moralischer Sieg über das Ausweglose, die menschlichste Form, dem Unversöhnlichen ein Ende zu machen."

Sowohl in seinen Erzählungen als auch in seinen Glossen erweist sich der Autor Hans Sahl als souveräner Beherrscher der literarischen Kurzformen, die er zudem meisterlich mit Inhalt zu füllen vermag, verfeinert und gewürzt mit dezenter Ironie und intellektueller Grandezza. Die vorliegende Sammlung von Erzählminiaturen stellt also ein bunt bewegtes Zeugnis eines großen Literaten, Philanthropen und Kritikers dar und kann einen weit größeren Stellenwert beanspruchen als nur eine x-beliebige Ausgrabung aus der Literaturgeschichte.

(Werner Fletcher; 02/2013)


Hans Sahl: "Der Mann, der sich selbst besuchte. Erzählungen und Glossen"
Luchterhand Literaturverlag, 2012. 416 Seiten.
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