Joseph Roth: "Heimweh nach Prag"
Feuilletons - Glossen - Reportagen für das "Prager Tagblatt"
Gemeinhin gilt - zumindest
in journalistisch tätigen Kreisen - die Zeitung von gestern als
sprichwörtliches Nonplusultra des Veralteten. Wie mag man dann Artikel
der Jahre 1917 bis 1937 in einer nicht mehr existierenden
deutschsprachigen Tageszeitung aus Böhmen einordnen?
Das "Prager Tagblatt" nahm bis zu seiner zwangsweisen Schließung durch
die Nationalsozialisten 1939 eine besondere Stellung unter den
deutschsprachigen Blättern ein. Einst sollte es die deutschsprachige
Minderheit in der Tschechoslowakei und zuvor im Kronland Böhmen
gleichwertig über das eigene Land, Deutschland und Österreich
informieren. Als die Tschechoslowakei schließlich Ende der
Dreißigerjahre als einzige Demokratie Mitteleuropas verblieb, wurde es
als eine der wenigen nicht von der Zensur bedrohten deutschsprachigen
Zeitungen von Weltformat Asyl für emigrierte oder verfolgte deutsche
Schriftsteller. Bekannt und berühmt wurde die Zeitung durch eine
liberale Grundhaltung, exzellente Hintergrundberichterstattung und
tägliche Feuilletons, teils auch ohne aktuellen Zeitbezug. Kurt
Tucholsky, Egon Erwin Kisch und Friedrich Torberg schrieben
Feuilletons und literarische Reportagen, der Redakteur Torberg widmet
dem Blatt sogar ein Kapitel seines Buchs "Die Tante Jolesch". Von den
Mitarbeitern sind Namen wie Alfred Polgar, Roda Roda, Johannes Urzidil
und Max
Brod bis heute geläufig.
Sándor Márai,
der journalistische Texte bevorzugt und ausgezeichnet auf Deutsch
schrieb, und eben auch Joseph Roth etablierten sich hier als talentierte
Journalisten und Literaten.
Prag, die
Hauptstadt Böhmens und der Tschechoslowakei, spielte im frühen Leben
Joseph Roths und auch in seinem literarischen Vermächtnis keine
besondere Rolle. Möglicherweise kam er über den "rasenden Reporter" E.
E. Kisch, den er 1917 in Wien kennenlernte, in Kontakt mit der
Redaktion. Roth, der heute eher für seine Romane geschätzt wird, war in
den Zwanziger- und Dreißigerjahren einer der bekanntesten Journalisten
zwischen Berlin und Wien. Doch in keiner anderen Zeitung veröffentlichte
er über einen so langen Zeitraum - zwanzig Jahre - von August 1917 bis
Mai 1937.
Schon der erste Text verblüfft: Ein Gedicht mit dem Titel "Christus"
zeigt den aus dem Judentum stammenden Joseph Roth als Lyriker zu einem
christlichen Motiv. Es handelt sich um eine kriegsbedingte Anklage der
"Brüder, die einander hassen" und prangert wie auch zahlreiche folgende
Prosatexte und Gedichte die Kriegstreiber und Kriegsgewinnler an.
Roth, der erst in den letzten Jahren vor seinem Tod 1939 angesichts des
Nationalsozialismus sein untergegangenes monarchisches Vaterland
idealisierte, war ein Meister scharfer Analysen von konkreten sozialen
Missständen und politisch gefährlichen Verhältnissen. Diese eingehenden
Betrachtungen von Lebensweisen und Lebenszuständen machen betroffen,
lassen Not miterleben, sind aber nie Basis weiterführender ideologischer
Überlegungen. "Die Literaten sind Revolutionäre im Traum, die
Anderen nicht einmal in der Wachheit Demokraten" (Seite 79),
schrieb er in einem Nachruf auf ein Berliner Literatencafé im Sommer
1921.
Später, als Joseph Roth von der "Frankfurter Zeitung" mit großen
Reisereportagen beauftragt wurde, erschienen auch in Prag die teils
nachgedruckten Texte über die Sowjetunion (Herbst 1926), Albanien und
Jugoslawien (Frühsommer 1927) und Polen (Sommer 1928), die als
journalistische Meisterleistungen nicht nur Einblicke in längst
versunkene Gesellschaften erlauben, sondern aus heutiger Perspektive
auch alle Gräuel des 20. Jahrhunderts erahnen lassen: übersteigerten
Nationalismus, Stalinismus, Faschismus und schließlich den Zweiten
Weltkrieg.
"Nationale und sprachliche Einheitlichkeit kann eine Stärke sein,
nationale und sprachliche Vielfältigkeit ist es immer" (Seite
271), schrieb er schon 1924 in einer Reportage über Lemberg, polnisch
Lwów, heute ukrainisch Lviv, wo er sich als Maturant 1913 an der
Universität einschrieb.
Der 1930 in Böhmen
geborene Herausgeber Helmuth Nürnberger lehrte deutsche Literatur in
Flensburg und Hamburg. Er versteht es, der Lektüre dieser
Zeitungsartikel nichts von ihrer Unmittelbarkeit zu nehmen und
gleichwohl akademische Präzision hochzuhalten. Die Texte sind
chronologisch angeordnet und nur wenig bearbeitet, wiewohl editorische
Notizen am Ende genauen Aufschluss über die geringfügigen Änderungen
geben. Keine Fußnote stört den Lesefluss; doch wer mehr wissen will, wer
Namen, die vor 80 Jahren jeder kannte, nicht im Lexikon oder anderswo
nachschlagen möchte, findet umfangreiche Anmerkungen zur Entstehung und
zu den Inhalten jedes einzelnen Texts. Ein flüssig geschriebenes
Nachwort erlaubt die Einordnung dieser Reportagen, Feuilletons und
Glossen in das Gesamtwerk Joseph Roths.
(Wolfgang Moser; 01/2013)
Joseph Roth: "Heimweh nach Prag.
Feuilletons - Glossen - Reportagen für das 'Prager Tagblatt'"
Herausgegeben und kommentiert von Helmuth Nürnberger.
Wallstein Verlag, 2012. 640 Seiten.
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Weitere Buchtipps:
"Joseph Roth. Sehnsucht nach Paris, Heimweh nach Prag. Ein Leben in
Selbstzeugnissen"
"Alles, was ich besitze, sind drei Koffer." Ein Lebensmosaik
Joseph Roths.
Aus eigenen Briefen, Feuilletons und ausgewählten Prosaarbeiten, die
Joseph Roths Empfindungen und Eindrücke von Menschen, Situationen und
politischen Verhältnissen beschreiben, entsteht ein Mosaik der Stationen
seines Lebens.
"Ich habe keine Heimat, wenn ich von der Tatsache absehe, dass ich in
mir selbst zu Hause bin."
Dieser Satz Joseph Roths charakterisiert ihn wie kaum ein anderer als
das, was er Zeit seines Lebens war: ein Getriebener. 1913 kommt der
Neunzehnjährige aus Lemberg in Galizien zum Studium nach Wien. 1939
stirbt Joseph Roth im Pariser Exil. Dazwischen liegt ein rast- und
ruheloses Leben als Dichter, Schriftsteller und Journalist, das ihn von
Wien über Berlin, wo seine ersten Romane erscheinen, und Russland
schließlich in die französische Hauptstadt führt. Hier entsteht zwischen
1933 und 1939 fast die Hälfte seines literarischen Werks, so z. B. "Die
Beichte eines Mörders" oder "Die
Kapuzinergruft". In seinen Feuilletons, die er seit 1919
regelmäßig schreibt und in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht, ist
Roth immer aktiver, engagierter Chronist seiner Zeit. Unermüdlich und
mit ungeheurer Schärfe und Brillanz schreibt er an gegen Staatswillkür
und seit 1933 gegen den Nationalsozialismus. In seinen Briefen, u. A. an
Benno Reifenberg, René Schickele,
Stefan Zweig, erkennt man den privaten, glücklos Kämpfenden als
Opfer der Zeitläufte - und seiner selbst.
Helmut Peschina hat im vorliegenden Band Texte Joseph Roths aus diesen
drei Gattungen chronologisch verschränkt, mit einem Vorwort versehen und
zu einem beeindruckenden Lebensmosaik zusammengefügt. (Kiepenheuer &
Witsch)
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Steffen
Höhne, Klaus Johann und Mirek Nemec (Hrsg.): "Johannes Urzidil
(1896-1970). Ein 'hinternationaler' Schriftsteller zwischen Böhmen und
New York"
Leben und Werk des deutschsprachigen Prager Schriftstellers Johannes
Urzidil stehen im Mittelpunkt dieses Bandes. Er nimmt dessen
vielfältiges Oeuvre in den Blick, das in seiner böhmischen Heimat wie im
New Yorker Exil entstand. Die Beiträge beleuchten Urzidils Bedeutung als
Erzähler und Lyriker, als politischer Zeitungs- und Rundfunkjournalist,
als Verfasser von kunst-, kultur-, literatur- und landesgeschichtlichen
Essays und Monografien sowie als Übersetzer aus dem Tschechischen und
Englischen. Der bedeutende Mittler zwischen Deutschen und Tschechen,
Christen und Juden, Europa und den USA wird so wieder stärker im
kulturellen Gedächtnis verankert. (Böhlau)
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