Viktor Pelewin: "Tolstois Albtraum"
Wenn nichts so ist, wie es scheint ...
Viktor Pelewins anno 2009 unter dem Titel "T" in russischer Sprache
erschienener Roman ist ein bemerkenswerter Text, der als Art Satire auf
eine Art biografische Erzählung über das Leben des Autors von "Anna
Karenina", sich über diverse Variationen aus den Genres Fantastik,
Horror, Reißer und einer noch absurderen, quasi philosophischen
Abhandlung einer buddhistischen Weltanschauung bis zum Ende des Romans
so entwickelt, dass eine eindeutige Deutung des auf den letzten 440
Seiten gelesenen Textes prinzipiell nicht möglich ist. Es ist auch ein
Text, auf den der russische Titel "T" viel besser zu passen scheint, als
der deutsche Titel "Tolstois Albtraum". Das deshalb, weil es zur Figur
des Protagonisten viel besser zu passen scheint, auch im Titel den
unanfechtbaren Namen Graf T. zu erhalten, da der Name Graf Tolstoi
gewisse rechtliche Probleme mit sich bringen könnte ...
Beginnt der Roman noch wie ein typischer russischer Roman, der
möglicherweise sogar aus der Feder des echten Leo Tolstois stammen
könnte, ist man bereits nach wenigen Seiten definitiv im Reich des
Viktor Pelewin. Mit einem Sprung aus dem Eisenbahnwaggonfenster in einen
Fluss rettet sich der Protagonist vor dem als Geistlichen getarnten
Mitreisenden. Ab hier gibt es kein Zurück mehr, man wird als Leser
mitgerissen in diesem erzählerischen Gebirgswasser der Postmoderne.
Wie eigentlich in allen Texten des russischen Kultautors gilt der
postmoderne Grundsatz: "Alles geht, nichts ist verboten".
Und so muss Graf T. zuerst die Gunst einer rätselhaften, auf einem
mysteriösen Kahn reisenden Gräfin erobern, bevor er sich mit
mörderischen Pygmäen messen muss, nur um auf der Flucht zufällig in
einem Zigeunerlager Zuflucht zu suchen, in dem man bereits auf ihn
wartet.
Während der Protagonist Graf T. dahinterkommt, dass er wahrscheinlich
nur der Protagonist, oder auch nur eine literarisch-geschäftstaugliche
Spielfigur eines ungreifbaren Autors ist, spürt der Leser zwischen den
Zeilen bereits die anarchistische Auflehnung gegen ihr
Protagonisten-Dasein der verschiedenen Figuren. Zusätzlich entpuppt sich
der Autor als nur einer von vielen Autoren, die, in schlechter
Abstimmung arbeitend, eine Art Auftragsschreiberbrigade für ein größeres
Imperium sind, dem es natürlich nur um die Verkaufszahlen geht. Daher
muss Graf T. auch auf alle möglichen Widrigkeiten gefasst sein, die sich
seine Kreatoren für die Sponsoren einfallen lassen.
So verwundert es auch nicht, wenn Graf T. auf den mörderischen
Dostojewski trifft, der sein Dasein als eine Art Zombiejäger fristet. Er
schießt aus dem Hinterhalt Zombies ab, um an ihre Wurst- und Wodkaration
zu kommen. Die Zombies will er mit Hilfe einer Spezialbrille mit
Zombie-Farbkennung erkennen; eine Brille, die allerdings immer die selbe
Farbe aufweist, egal ob Zombie oder Mensch.
Während sich Tolstoi und Dostojewski bekriegen, passiert die Wendung zur
Emanzipation der Figuren, die zu einer revolutionären Loslösung und
einem Ungehorsam gegenüber den Schöpfern führt. Mit furiosem,
parodistischem Humor und einer Doppelbödigkeit, allein schon das
Aufeinandertreffen von Tolstoi
und Dostojewski
ist zum Brüllen komisch, die dem Leser sukzessive den Boden unter den
Füßen wegzieht, wobei es dem Leser nicht viel anders als den sich
auflehnenden Figuren geht, entwickelt Viktor Pelewin einen Romantext,
der in seiner offenen Gestaltung, im Sinne der Auflösung der
verschiedenen Ideen- und Handlungsstränge, konsequent inkonsequent ist.
Somit werden Leser, denen die sinnvolle Zusammenführung aller
Handlungsstränge und Ideen in einem Roman wichtig sind, wahrscheinlich
enttäuscht sein. Viktor Pelewin schrammt auch bewusst sehr knapp an der
Grenze zwischen Ulk und Ernst dahin und reizt die Grenzen unerhört aus.
Aber selbst die kleinen Ausrutscher über die Grenze der Albernheit sind
hier bewusst gesetzte Bausteine, die sich ins Ganze fügen.
Viel Ironie und Selbstironie bestimmen den Text, in dem natürlich
zusätzlich unendlich viele Anspielungen auf russische Klassiker, Fabeln,
Volksmärchen und Anekdoten enthalten sind, die dem Nichtrussen mit
großer Wahrscheinlichkeit nicht geläufig sind und daher etwas verlieren,
auch wenn die meisten in den Anmerkungen der Übersetzerin erklärt
werden. Die Übersetzung ist ausgezeichnet und bringt die Prosa Viktor
Pelewins auch in deutscher Sprache wunderbar zum Leuchten.
Fazit:
Ein Roman, der seine Nahrung und Ingredienzien aus allen stilistischen
Ecken holt, diese in einem dem Autor eigenen Schreib-Kochtopf aber zu
einem verrückt-ungebändigten Textkunstwerk zusammenwachsen lässt, das
definitiv schmeckt, auch wenn man das Rezept nicht genau fassen kann.
Sehr empfehlenswert.
(Roland Freisitzer; 04/2013)
Viktor
Pelewin: "Tolstois Albtraum"
(Originaltitel "T")
Deutsch von Dorothea Trottenberg.
Luchterhand Literaturverlag, 2013. 448 Seiten.
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Von den dunklen Anfängen in der Kiever und der mongolischen Epoche führt
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letzten Jahrzehnte einreiht.
Der renommierte Historiker Manfred Hildermeier legt hiermit eine
Gesamtdarstellung der Russischen Geschichte vor, die im Mittelalter
einsetzt und dort endet, wo der vorangegangene Band beginnt. Politik und
Herrschaftsordnung, soziale Verfassung, Wirtschaft, Industrie und Handel
sowie die materielle und geistige Kultur
bilden dabei die zentralen Achsen. Der rote Faden des Werkes ist das
Verhältnis zu Europa, aus dem sich auch die klare These ergibt: Vor
Ausbruch des Weltkriegs gehörte Russland so eng zu Europa wie nie zuvor.
Erst die Sowjetunion hat dies geändert - und ihr
Zusammenbruch die alte Schicksalsfrage Russlands wieder auf die
Tagesordnung gesetzt. (C.H. Beck)
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