Cees Nooteboom: "Briefe an Poseidon"
Dreiundzwanzig Texte für
den Meeresgott
2008, an einem Februartag in München, kauft Cees Nooteboom am
Marienplatz "Die vier Jahreszeiten" von Sándor
Márai. Kurze Texte, kein Roman, eine Aufmachung, die auf ihn einen
traurigen Eindruck macht. Er erinnert sich an das letzte Tagebuch des
ungarischen Autors, das dieser knapp vor seinem Selbstmord mit 88 Jahren
in San Diego sparsam, verbissen und bitter verfasst hat. Nachdem der
niederländische Autor endlich ein Leseplätzchen im Freien, in einem
Fischrestaurant, gefunden hat, bemerkt er die Serviette, auf die der
Name "Poseidon" in Blau aufgedruckt ist, in der Farbe des Meeres, an dem
er im Sommer lebt.
Obwohl er gerade mitten in der Arbeit an einem Buch ist, weiß er, dass
er dem Meeresgott Briefe schreiben wird, kleine Texte, die ihm von
seinem Leben berichten sollen, von seinen Gedanken. Wortsammlungen,
inspiriert durch die unterschiedlichsten Ereignisse.
"Es wird Abend auf der Insel, auf der ich im Sommer lebe, das Meer
ist nahe, das Meer des Poseidon, die Felsen, bei denen ich immer
schwimme. Ich blicke auf die weite, leicht wogende Fläche, die
Bewegung im letzten Aufglänzen des Sonnenlichts. Mit Ausnahme des
Wassers an den Felsen ist kein Laut zu hören. Ich muss einfach
anfangen."
Zwischen philosophischen Befragungen des Gottes sind kleine Texte
eingestreut, die am ehesten als Momentaufnahmen, Gedankenspiele und
kostbare literarische Fundstücke zu bezeichnen sind.
Es beginnt mit den Gedanken zu einem in Südfrankreich lebenden Mann, der
seine bereits tote Frau, vertreten durch ihren Hut, heiraten durfte und
geht weiter zur Belagerung eines Gemäldes von Pieter Snayers im Prado,
dann zur jährlichen Blech- und Paukenorgie in Bayreuth, sodann in den
mediterranen Garten des niederländischen Autors, bevor er Poseidon die
Frage nach der Sinnhaftigkeit und Existenz der Götter stellt, nämlich
was denn geheimnisvoller sei, "jemand, der sterben kann, oder
jemand, der nie sterben darf?"
Eine Begegnung mit einem Jungen löst in ihm das Gefühl aus, sich selbst
begegnet zu sein, bevor er sich der Stille auf einem Foto widmet, auf
dem zehn Särge von französischen Soldaten zu sehen sind. Der Frage nach
dem Krieg, der diese Toten gefordert hat und dem Gefühl der Trauer in
theatralischer Reinheit.
Eine Erzählung von Kafka
mit dem Titel "Poseidon" dient als Ausgangspunkt für einen weiteren
Brief, bevor sich der Autor mit dem "Challenger"-Absturz
beschäftigt. Weitere Briefe an Poseidon wechseln ab mit Gedanken über
die Zeit per se, eine französische Adelige und den im vierzehnten
Jahrhundert schaffenden Japaner Kenko.
Ein Foto in "The Times" zwingt den Autor, sich Gedanken über die
Wahrnehmung zu machen. Ein Foto, das auf den ersten Blick harmlos
erscheint, das jedoch ein Foto des Schauplatzes eines brutalen Mordes
ist. Ein Foto, das bei aller Genauigkeit keinen Aufschluss über das
Geschehene gibt.
"Ich betrachte das Foto noch einmal. Von dem Lastwagen, der aussieht
wie ein Lastwagen, geht jetzt eine so intensive Ausstrahlung aus, dass
es kaum zu ertragen ist."
Cees Nooteboom beschreibt die Vorstellung eines Leichenschmauses eines
über hundert Tonnen wiegenden Wales auf dem Meeresgrund, nach den
unzähligen Meerestieren, die sich zu dieser Monate oder gar Jahre
dauernden Fressorgie einfinden, und lässt sich durch eine Postkarte
inspirieren, die ihn als Gast eines rauschenden diplomatischen Festes ins
Buenos Aires von 1938 zurückversetzt. Während er die zukünftigen
Feinde im Tanz
vereint sieht, sieht er, wissend, bereits die auf fünf Kontinenten
verteilten Leichen der Anwesenden.
Das sind nur einige Beispiele für die unzähligen interessanten, präzise
geformten und herrlich gedachten Gedanken des großen holländischen
Autors, der in diesem Band die Wissenschaften und Mythen,
die Realität und die Literatur auf wundersame Weise in Verbindung bringt
und so ganz Großes schafft. Jeder der hier versammelten Texte regt zum
Nachdenken an und verführt den Leser unweigerlich in die jedem Text
eigene Welt, den jedem Text eigenen Mikrokosmos.
Der Rezensent empfiehlt, jeweils nur ein paar Texte am Stück zu lesen,
da sich diese so besser genießen lassen, als direkt hintereinander.
Im Anhang finden sich Erklärungen zu den jeweiligen Texten: biografische
Notizen, Fotos oder Erklärungen, die dem Leser helfen, manche
Hintergründe besser zu verstehen.
Absolute Empfehlung.
(Roland Freisitzer; 02/2013)
Cees
Nooteboom: "Briefe an Poseidon"
(Originaltitel "Brieven aan Poseidon")
Aus dem Niederländischen von Helga van Beuningen.
Suhrkamp, 2012. 224 Seiten.
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