Coralie Colmez, Leila Schneps: "Wahrscheinlich Mord"

Mathematik im Zeugenstand


Gefühlvolle Betrachtung von acht Kriminalfällen, bei denen die Mathematik im Mittelpunkt steht

Eine Mutter, die beschuldigt wird, ihre zwei Söhne getötet zu haben, ein Sohn der seine Eltern kaltblütig niedergemetzelt haben soll und ein dubioses Studentenpärchen unter Mordverdacht in Italien - diese und mehr verblüffende Fälle mitsamt mathematischen Fehlern finden in diesem interessanten Buch Platz; vom (vermuteten) Tathergang bis zum Gerichtsurteil und dessen Folgen wird behandelt, wie man es spektakulärer und tragischer nicht hätte erfinden können.

Eine vereinfachte Darstellung des mathematischen Grundprinzips, das den jeweiligen Irrtum charakterisiert, leitet Fall für Fall kurz und anschaulich ein. Danach geht es um den jeweiligen Fall und im Zuge der Ermittlungen auch um die fatalen mathematischen Fehler. Maßgeblich zu diesen beigetragen hat meist eine Person, zum Beispiel der Anwalt oder ein sogenannter Experte, der falsche mathematische Berechnungen aufgestellt hat und der dann, ohne weitere Überprüfungen, propagiert und Beweis geführt hat. Im Fall Sally Clark zum Beispiel hetzt ein medizinischer Gutachter mit falschen Informationen ein Land und über dieses hinaus ganze Bevölkerungsgruppen weltweit gegen eine trauernde Mutter auf und bringt unzählige Unschuldige hinter Gitter.

Die Fälle Amanda Knox und die Dreyfus-Affäre sowie andere Fälle, die Weltberühmtheit erlangt haben, sind allesamt gekennzeichnet durch große Unsicherheiten, verursacht durch falsch verwendete mathematische Methoden und mangelnde Hinterfragung dieser und daraus folgender Justizirrtümer. Erschreckenderweise handelt es sich bei diesen Fehlurteilen nicht um mittelalterliche Gerichtsbarkeit, sondern um Vorkommnisse, die fast allesamt im 20. und 21. Jahrhundert die Welt und die fälschlich Beschuldigten erschütterten.

Viele der Betroffenen hatten das Glück, am Ende doch noch entlastet zu werden; das war nach jahrelanger Haft aber oft ein schwacher Trost. Denn nach dem Gefängnis standen die Opfer der Justiz vor einem großen Abgrund: das Leben ein Trümmerhaufen, persönlich und gesellschaftlich gebrandmarkt durch die falschen Behauptungen, die Psyche für immer krank und das Herz auf ewig gebrochen. Auch wenn sicher nicht alle Beschuldigten der jeweiligen Fälle unschuldig waren oder sind, ist es doch traurig zu sehen, wie kuriose und nicht ausreichende Beweise aus einem Unschuldigen ein Monster machen, mit der Mathematik als Ankläger.

Das Autorengespann Colmez-Schneps, Mutter und Tochter und beide Mathematikerinnen, greift diese Vorkommnisse auf und erläutert die verheerenden mathematischen Fehleinschätzungen, die durch Verwendung von etwa Wahrscheinlichkeitsrechnungen, Statistikberechnungen und  Häufigkeitsverteilungen in der Urteilsfindung begründet sind. Jeder einzelne der acht Kriminalfälle birgt Mythen, Verschwörungstheorien und Geheimnisse. Die Wahrheit wird in vielen Fällen vermutlich niemand außer dem wahren Täter jemals kennenlernen. Es ist verblüffend, wie folgenschwer scheinbar banale Rechenfehler Schicksale und Menschen beeinflussen und in den Ruin treiben können.

Die ja oft als trocken und vor allem realitätsfern bezeichnete Mathematik zeigt sich in diesem Buch als durchaus praktische Wissenschaft, nur bedauerlicherweise völlig falsch eingesetzt. Ihre Verwendung im Gerichtssaal ist ein zurzeit noch strittiges Thema, was man nach dem Lesen dieses Buches durchaus nachvollziehen kann. Detailreiche, teils recht unbekannte Informationen zu weltbewegenden Verbrechen und den darauf folgenden Verhandlungen machen die Mathematik lebendig. Leicht verständlich und gut erklärt bietet "Wahrscheinlich Mord" eine nüchterne Darstellung teils hoch emotionaler Schicksale. Jeder einzelne Fall für sich würde Stoff für einige Kriminalromane bieten, und dank der beiden Autorinnen liest sich "Wahrscheinlich Mord" auch fast wie einer. Dieses Buch ist eine durchaus empfehlenswerte Abhandlung über Tathergänge von Mord bis zur Geschlechterdiskriminierung, mit wissenschaftlichem Einschlag, aber durchaus flüssig zu lesen. Dramatische Geschichten, die tragischerweise vom Leben selbst geschrieben wurden.

(Alexandra Gölly; 08/2013)


Coralie Colmez, Leila Schneps: "Wahrscheinlich Mord. Mathematik im Zeugenstand"
(Originaltitel "Math on Trial: How Numbers Get Used and Abused in the Courtroom")
Übersetzt von Klaus Fritz.
Hanser, 2013. 276 Seiten.

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