Giovanni Montanaro: "Alle Farben der Welt"
Der aufgrund dieses
Briefromans für den renommierten "Premio Campiello" nominierte
Schriftsteller und Anwalt Giovanni Montanaro, geboren 1983, entführt
seinen von der ersten Seite des Buches gebannten und faszinierten
Leser in die belgische Stadt Geel in das Jahr 1877.
In Geel lebten schon seit dem Mittelalter Verrückte aller Art und
Erscheinung in unkomplizierter, einträchtiger Gemeinschaft mit den
normalen Bürgern. Sie waren in der Obhut von Familien, die dafür eine
Vergütung bekamen, von der sie gut ihr Einkommen aufbessern konnten.
Jeder dieser Kranken wurde in Ruhe gelassen.
Wer kann, erledigt kleine Hausarbeiten für die Gastfamilie, arbeitet im
Garten oder auch auf dem Feld. Andere laufen nur in der Gegend herum und
schreien sich ihr Elend aus dem Leib.
"Manche sind gefährlich, sie werden als unschuldig bezeichnet und
manche kommen wieder zu Verstand, einige wenige bringen sich um ..."
So wird es die ich-erzählende Hauptfigur des Romans später beschreiben.
Jeden Freitag werden die Kranken in die Kirche der heiligen Dymphna
geführt, der Schutzpatronin der Verrückten, zu der schon seit
Jahrhunderten Pilger aus ganz Europa beten und auf ein Wunder hoffen.
Stirbt einer der Kranken, so wird sein Pflegeplatz in der jeweiligen
Familie sehr schnell wieder besetzt. So ist es auch im Oktober 1877, als
man einen neuen Kranken erwartet und sich mit einem Dorffest darauf
vorbereitet. Doch die Kutsche kommt nicht. Stattdessen stellt sich
heraus, dass in der Zwischenzeit ein Fremder im Dorf aufgetaucht ist.
"Ich habe mich verirrt", berichtet der seltsame Rothaarige; schon
als Kind habe man ihn "fou roux", den "rothaarigen
Verrückten" gerufen, und er heiße Vincent van Gogh.
Die wohlhabende Familie Vanheim, die vergeblich auf den neuen
Mitbewohner gewartet hat, nimmt den Fremden für ein paar Tage auf. Neben
den drei eigenen Kindern lebt bei der Familie die dreizehnjährige Teresa
Ohneruh, eine Waise, deren bei ihrer Geburt verstorbene Mutter als
besessen galt. Der königliche Inspektor hält den Säugling für gesund,
gibt ihn aber in Pflege, weil er es "vor den neugierigen Blicken und
dem naiven Aberglauben der Dorfbewohner" retten will. Der Arzt
spürt schon damals, dass es etwas gibt, das das Mädchen "zu etwas
Besonderem machte".
Die wenigen Tage, die Teresa mit van
Gogh verbringt, werden ihr Leben verändern. Sie fühlt sich selbst
zum ersten Mal, auch als junge, erwachende Frau, und sie erkennt mit
ihrer besonderen Fähigkeit van Goghs Talent als Maler. Teresa sieht in
seinen Augen, dass ihn ein "Drang erfüllte bis ins Mark", und
bringt ihn auf den Weg, "um endlich ins Land der Farben zu gelangen".
Sie kauft ihm beim Kaufmann Zoek, der den Verrückten sonntagnachmittags
Malunterricht erteilt, Ölfarben, Pinsel und Leinwand.
Doch bald schon verlässt van Gogh die Stadt Geel wieder.
Teresa kann Vincent nicht vergessen. Einziges Ziel ihres Fühlens und
Denkens ist und bleibt er, wie sie später schreibt:
"Was hätte mir mehr gefallen, zu lieben oder von Ihnen geliebt zu
werden? ... Was für eine Frau wäre ich wohl heute?"
Im Alter von 26 Jahren beginnt Teresa einen langen, erschütternden Brief
an van Gogh, ohne zu wissen, ob er ihn je erreichen wird. Sie beschreibt
darin das Leben in Geel und ihren eigenen Werdegang - wie sie lesen und
schreiben lernt, van Gogh begegnet und liebt, später den epileptischen
Anfall miterlebt, den er beim Malen seines ersten farbigen Bildes
erleidet.
Es ist erschütternd, zu lesen, wie diese vor ihrer Begutachtung als
Verrückte so glückliche Frau, die sich nach nichts Anderem sehnt als
nach Wärme und Liebe, und so unendlich viel davon in sich trägt, in die
Fänge von Wissenschaftlern gerät, die sie zum Objekt ihrer Forschungen
machen, an denen sie zugrunde geht.
Sie wollte ihr ganzes Leben lang sie selbst sein, doch genau das hat man
ihr nie gestattet.
"Alle Farben der Welt" ist ein beeindruckender Roman über das Anderssein
und die Kraft der Liebe,
die über den Tod hinausreicht. Aber auch ein Roman über das Malen und
die Imagination der Farben. Der Autor beschreibt in einem Nachwort seine
Überzeugung, dass "van Gogh durch Geel gekommen und dort zum
Maler geworden war".
(Winfried Stanzick; 12/2013)
Giovanni Montanaro: "Alle Farben der Welt"
(Originaltitel "Tutti i colori del mondo")
Aus dem Italienischen von Karin Krieger.
DVA, 2013. 176 Seiten.
Buch bei thalia.at bestellen
Buch
bei amazon.de bestellen
Digitalbuch bei amazon.de bestellen
Giovanni
Montanaro wurde für seine Romane bereits mit diversen Preisen
ausgezeichnet. "Alle Farben der Welt" ist sein dritter Roman; er wurde
zum Überraschungserfolg in
Italien.
Noch ein Buchtipp:
Steven Naifeh, Gregory White Smith: "Van Gogh. Sein Leben"
Standardwerk und Sensation: Nach vielen Jahrzehnten liegt endlich eine
große, bahnbrechende, opulent illustrierte Biografie Vincent van Goghs
vor, die alle bisherigen Lebensbeschreibungen übertrifft und einen
völlig neuen Blick auf das Malergenie ermöglicht. Sie vereint große
erzählerische Kraft mit psychologischem Feingefühl, neueste
Forschungsergebnisse mit unbekannten Einblicken in van Goghs Leben:
seine tiefe Verwurzelung in Kunst und Literatur, sein kompliziertes
Liebesleben, den Kampf gegen seine psychische Erkrankung sowie die
mysteriösen Umstände seines Todes.
Diese imposante, völlig neue und tief berührende Lebensbeschreibung
eines der größten Künstler der Moderne wird auf lange Zeit hin Bestand
haben. (S. Fischer)
Buch
bei amazon.de bestellen