Rainer Merkel: "Bo"
Als der dreizehnjährige
Benjamin von Berlin nach Liberia fliegt, wo er seinen Vater besuchen
soll, der schon seit Langem bei der "GTZ" arbeitet, und dessen
Beziehung zu Benjamins Mutter wohl auch wegen der andauernden
Abwesenheiten in der Fremde zerrüttet ist, da muss er erschüttert
feststellen, dass sein Vater nicht da ist, um ihn in Monrovia
abzuholen.
Zu allem Überfluss hat er im Flugzeug ein Behältnis verloren, in dem
sich sein Geld und sein Pass befanden. Die alte, etwas skurrile
Sitznachbarin, die später im Roman wieder auftaucht, hat er sich nicht
zu fragen getraut. In ihrer Tasche ist sein Behältnis möglicherweise
gelandet.
Auf dem Flughafen trifft er auf ein etwa gleichaltriges Mädchen namens
Brilliant. Sie kommt gerade aus den USA, um ihren schwerreichen Onkel zu
besuchen, dem, wie sich später herausstellt, das halbe Land Liberia
gehört. Mit Brilliants Hilfe schafft es Benjamin durch die Kontrollen,
und dann beginnt ein atemloses Abenteuer, bei dem Merkel Benjamin
begleitet und bei dem ihm in den folgenden drei Tagen, (über diesen
Zeitraum erstrecken sich die fast 700 Seiten des Romans), sehr
unterschiedliche Menschen begegnen. Unter Anderem Angehörige der
Organisation "Ärzte
ohne Grenzen", die in Monrovia eine Art psychiatrischer Klinik
betreiben, in der aber die Patienten die Kontrolle über alles zu haben
scheinen. Mit ihrer Hilfe kann Benjamin sogar mit seiner Mutter
telefonieren, doch er erzählt ihr nichts von den Schwierigkeiten, in
denen er steckt. Wahrscheinlich, um sie zu schonen, denn ihre kurze
Charakterisierung lässt den Schluss zu, dass sie in Berlin selbst
dringender psychiatrischer Hilfe bedarf.
Über eine lange Strecke findet der Roman keinen wirklichen Faden, die
Handlung springt vor und zurück, macht das Lesen zu einer ziemlich
anstrengenden Angelegenheit. Oder wollte Rainer Merkel mit diesem Stil
das Chaos eines Landes abbilden, im dem er selbst mehrere Jahre
gearbeitet hat?
Als Benjamin auf den blinden Bo trifft, einen Jungen mit erstaunlichen
Fähigkeiten und Einsichten, nimmt der Roman wieder Fahrt auf, zumal sich
der Leser immer noch durch die Frage bei der Stange gehalten sieht, wo
denn nun Benjamins Vater geblieben ist.
Mit Bo, dem er selbst begegnet ist, wie er einem Interview erzählte, ist
es Rainer Merkel gelungen, dem Leser etwas von dem geheimnisvollen Land
nahezubringen, das er selbst liebt, und das er im Herbst 2012 in seinem
Reportageband "Das Unglück der anderen. Kosovo, Liberia, Afghanistan"
teilweise beschrieben hat.
Bo, Brilliant und Benjamin machen sich auf eine abenteuerliche Suche
nach einem Mädchen namens Flowers. Sie war Patientin des "Mental
Home", jener seltsamen psychiatrischen Klinik, ist von dort
geflohen und wird von den drei Freunden in großer Gefahr gewähnt.
Und so lässt Rainer Merkel drei Pubertierende unterschiedlicher Herkunft
sich in
Afrika durchschlagen: Einen blinden Liberianer, ein nur äußerlich
noch schwarzes Mädchen, das lange in den USA gelebt hat, und einen
deutschen Knaben, der sein geringes, von seinem Vater vermitteltes
Wissen über Liberia überhaupt nicht mit der erlebten Realität verbinden
kann.
Und indem der Leser diese Drei bei ihrem Abenteuer begleitet, erhält er
einen ungefähren Eindruck von den Widersprüchen und den Problemen eines
Landes, das pars pro toto für Afrika steht, einen nach wie vor fremden
Kontinent.
Was man an diesem sprachlich gelungenen Buch allerdings kritisieren
kann, ist seine Länge. An so manchen Stellen war der Rezensent versucht,
entweder weiterzublättern oder gar aufzugeben.
Das letzte Kapitel, in dem Bo über die Welt philosophiert und sich so
manches
Rätsel löst, versöhnt dann wieder mit der Lektüre.
(Winfried Stanzick; 04/2013)
Rainer
Merkel: "Bo"
S. Fischer, 2013. 688 Seiten.
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Ein weiteres Buch des
Autors:
"Das Unglück der anderen. Kosovo, Liberia, Afghanistan"
Reisen in die Krise Oder Der Rausch des Helfens.
Rainer Merkel, der ein Jahr lang als Mitarbeiter bei der
Hilfsorganisation "Cap Anamur" in einer Psychiatrie in Liberia
gearbeitet hat, reist in drei vom Krieg verwüstete Länder. In seinen
Reportagen fragt er, welche Anziehungskraft Traumata und Gewalt auf
Menschen haben können. Friedensarbeiter, Traumatherapeut oder
Bundeswehrsoldat: Sie alle suchen die Grenzerfahrung, die nicht intensiv
genug sein kann. Als Journalist im Feldlager der Bundeswehr in
Afghanistan wird Merkel plötzlich mit seiner eigenen Geschichte
und seinen eigenen Traumata konfrontiert. Es zeigt sich, dass das
Unglück der anderen unsere Trauer ist. (S. Fischer)
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